Serie 1972: Das Jahr, das bleibt, Folge 8:Der Mauerfall

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DDR-Bürger demonstrieren im Jahr 1990 vor dem Berliner Palast der Republik gegen die Einführung des westdeutschen Paragrafen 218. (Foto: picture alliance/dpa)

1972 wurde der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland legalisiert. Allerdings nicht in der Bundesrepublik, sondern in der DDR.

Von Susan Vahabzadeh

An manchen Stellen sieht 1972 aus wie das Land von Übermorgen. Als Norman Jewison den Science Fiction-Film "Rollerball" drehte, hat er sich als Kulisse beispielsweise die Münchner Rudi-Sedlmayer-Halle ausgesucht, Jahrgang '72, für die olympischen Spiele gebaut, heißt heute Audi Dome. Die Gleichberechtigung hatte damals allerdings noch keine futuristischen Ausmaße erreicht. Das Familienrecht, das erst fünf Jahre später reformiert wurde, legte immer noch fest, eine Ehefrau sei für die Haushaltsführung zuständig und könne erwerbstätig sein, "soweit das mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist". Dass 1972 unter feministischen Gesichtspunkten dann doch ein Meilenstein-Jahr wurde, hat mit der DDR und wahrscheinlich auch mit Alice Schwarzer zu tun. Aber der Reihe nach.

Den Westen hatte Ende der Sechzigerjahre ein revolutionärer Geist erfasst. Ein feministisch-revolutionärer war es nicht. Beim Delegiertenkongress des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds 1968 hatte die feministische Filmemacherin und Autorin Helke Sander in einer Brandrede den Herren Genossen vorgeworfen, Spiegelbild einer männlich dominierten Gesellschaftsstruktur zu sein, und weil die Herren Genossen diesen Wortbeitrag ignorieren wollten, kam es zu dem berühmten Tomatenwurf, der sozusagen zum Startsignal für die Zweite Frauenbewegung wurde. Die Frauen in linken studentischen Zirkeln hatten genug davon, sich erzählen zu lassen, der Sozialismus würde dereinst von ganz allein die Gleichberechtigung bringen, und möglicherweise hatte diese Kritik sich bis auf die andere Seite der Mauer herumgesprochen.

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Jedenfalls wurden in der Folge Differenzfeminismus und Gleichstellung diskutiert, neue Familienmodelle vorgeschlagen und Frauenbuchläden eröffnet, vor allem aber begann ein Kampf um das Recht am eigenen Körper: Eine zentrale Forderung der Zweiten Frauenbewegung war die nach der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, nach einer körperlichen Selbstbestimmung, die es ermöglicht, ohne das eigene Leben zu riskieren, ohne ins Gefängnis dafür zu gehen, ohne männlichen Einspruch oder fremde Begutachtung eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden, was natürlich für Frauen, die nach geltendem Recht nicht mal ihre Arbeitsverhältnisse hätten beenden können, eine kühne Forderung war.

Im Westen drohten ein bis fünf Jahre Freiheitsstrafe für einen Abbruch

Der Paragraf 218 war in seiner Fassung von 1972 nicht so drakonisch wie die Todesstrafe für Abtreibung bei den Nationalsozialisten, aber von Selbstbestimmung war man weit entfernt - ein bis fünf Jahre Freiheitsstrafe drohten Frauen für einen Abbruch. Der Paragraf 218 besagt übrigens bis heute nur, dass Frauen für Schwangerschaftsabbrüche nicht bestraft werden, was nicht dasselbe ist wie Abbrüche zu legalisieren, deswegen steht er ja auch im Strafgesetzbuch.

1971 kam Bewegung in die Sache. Im Juni erschien der berühmte Stern-Titel: 24 Frauen waren darauf abgebildet, einige von ihnen gehörten damals zu den berühmtesten Schauspielerinnen. Romy Schneider war dort zu sehen, Senta Berger, Sabine Sinjen und Vera Tschechowa, "Wir haben abgetrieben", war auf einem gelben Band zu lesen, das über den Titel lief, und im Heft stand die dazugehörige Geschichte von Alice Schwarzer, in der sich 374 Frauen bekannten, gegen das im Paragraf 218 festgelegte Abtreibungsverbot verstoßen zu haben. Später stellte sich zwar heraus, dass einige von ihnen das keineswegs getan hatten, aber eigentlich macht das diese Aktion fast noch schöner - was für ein Akt der schwesterlichen Solidarität. Jedenfalls war das Ganze ein gehöriger Skandal, und er heizte die Debatte an. Ende des Jahres wurde auf dem SPD-Parteitag beschlossen, das Gesetz zu reformieren.

1993 demonstrieren Frauen in Karlsruhe für das Recht auf Abtreibung. (Foto: dpa/SZ Photo)

Die Forderung nach legalen Schwangerschaftsabbrüchen war kein westdeutsches Phänomen. In den USA kam 1973 der Fall Roe v. Wade vor Gericht und endete in jenem Urteil des Obersten Gerichtshofs, das bis heute regelt, unter welchen Voraussetzungen Frauen eine Abtreibung durchführen lassen dürfen. Alice Schwarzers Stern-Geschichte hatte ein französisches Vorbild. Es gab ja aber auch noch eine andere Hälfte Deutschlands, die DDR. Und eben dort trat 1972 eine Gesetzgebung zur Schwangerschaftsunterbrechung in Kraft, bei der tatsächlich einzig und allein die schwangere Frau entscheiden konnte.

Kann sein, dass die DDR-Führung die Gelegenheit nutzte, dem Westen eine lange Nase zu drehen. Vielleicht wollte man auch einfach etwas unternehmen, um den Protest-Funken nicht überspringen zu lassen, denn auch in der DDR war die geltende Regelung bis dahin noch recht restriktiv: Zwar gab es in der sowjetischen Besatzungszone anfangs regionale Regelungen. Aber in der DDR waren bis 1965 Schwangerschaftsabbrüche ebenfalls nur aus medizinischen Gründen erlaubt, dann kamen soziale Indikationen hinzu, aber eine solche durchzusetzen, war eine ziemlich entwürdigende Prozedur.

Nun jedenfalls sollte es genau das Gesetz geben, das die westlichen Frauenrechtlerinnen forderten: In den ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft durften Frauen in der DDR nun selbst über einen Abbruch entscheiden, der Eingriff war für sie kostenlos, und sie wurden dafür krankgeschrieben. Am 9. März 1972 wurde von der Volkskammer das "Gesetz über die Unterbrechung einer Schwangerschaft" verabschiedet. "Die Gleichberechtigung der Frau in Ausbildung und Beruf, Ehe und Familie erfordert, dass die Frau über die Schwangerschaft und deren Austragung selbst entscheiden kann", stand in der Präambel.

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Ganz so einfach war es aber natürlich nicht. Nur ein einziges Gesetz hat die Volkskammer der DDR in ihrer Geschichte mit Gegenstimmen verabschiedet, und zwar just jenes "über die Unterbrechung einer Schwangerschaft" vom 9. März 1972. 14 Gegenstimmen und acht Enthaltungen gab es, ein einmaliger Widerspruch.

Bei der Wiedervereinigung ging mit der DDR auch deren liberales Gesetz unter

Im Westen begannen im selben Jahr erst einmal die Beratungen im Bundestag, und es dauerte noch zwei Jahre, bis Abbrüche in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft straffrei wurden, die Regierung aus SPD und FDP hatte sich für eine Fristenlösung entschieden. Aber daraus wurde dann doch nichts: Die Opposition aus CDU und CSU hatte das Bundesverfassungsgericht angerufen, und das entschied, die Fristenlösung sei verfassungswidrig. So wurde dann 1976 das heutige Modell verabschiedet, mit Beratungspflicht. In manchen Gegenden Deutschlands sind Abbrüche auch schon deshalb längst wieder schwieriger geworden, weil es an Kliniken fehlt, die den Eingriff durchführen.

Doch als die Mauer fiel, ging mit der DDR auch deren fortschrittlichere Abtreibungsregelung unter. Es war das westdeutsche Modell, das sich durchsetzte. 1990, vor der Wiedervereinigung, gab es Demonstrationen vor dem Palast der Republik, auf den Transparenten standen Sätze wie "Kein Paragraf 218! So wahr uns Gott helfe". Es nützte nichts: Das ostdeutsche "Gesetz über die Unterbrechung einer Schwangerschaft" verschwand mit der Wiedervereinigung, als habe es nie existiert. Aber 1972 war es eines der modernsten der Welt.

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