Netzkolumne:Im Chat mit Trump

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Digitale Klone der Präsidentschaftswahlkämpfer stehen den US-amerikanischen Wählern zur Verfügung. (Foto: chat2024.com)

Überschwemmt erst die künstliche Intelligenz kommende Wahlkämpfe mit Fake News, oder hat unsere Kultur die Wahrheit immer schon verdreht?

Von Michael Moorstedt

In einem Punkt sind sich alle Trendforscher einig: Die kommenden US-Präsidentschaftswahlen werden eine nie dagewesene Flut an KI-Fake-News hervorbringen. Auf der Website chat2024.com kann man schon mal ausprobieren, wie sich das anfühlen wird, und mit den Kandidaten ein Pläuschchen halten. Oder natürlich besser: mit deren KI-Klonen. Chatbots, die auf Reden und öffentliche Auftritte der Bewerber trainiert wurden, stehen der Öffentlichkeit Rede und Antwort.

Die Chats funktionieren erstaunlich gut: Der KI-Trump befindet sich sofort im inkohärenten Krawallmodus. Der Biden-Doppelgänger verliert sich in Kleinigkeiten, und der digitale DeSantis kündigt, wenig überraschend, einen "Krieg gegen das woke System" an.

"Haben Kunstformen wie der Roman nicht schon immer die Wahrheit herausgefordert?"

Wird das die neue Normalität sein? Die Menschen lesen sowieso keine Wahlprogramme. Werden sie sich in Zukunft stattdessen von zwar stimmigen, aber eben doch von Maschinen erdachten Einzeilern verführen lassen? Durch die kaum noch erkennbaren KI-Fakes erwarte uns im Internet, so meinen manche Kommentatoren, schon bald der "Tod der Realität".

In seinem kürzlich erschienenen Buch "A History of Fake Things on the Internet" schlägt der Medienforscher Walter Scheirer das Argument vor, Fälschungen im Internet nicht als radikale und erschreckende Abweichung von unseren gesellschaftlichen Normen zu sehen, sondern als ganz natürliche Entwicklung unseres natürlichen Drangs zur Mythenbildung und zum Geschichtenerzählen. Lügengebilde, wie sie etwa vom QAnon-Kult verbreitet werden, seien demnach kein fotorealistischer Trick, sondern ein Mythos, der offenbar mit den Ängsten und Sehnsüchten einer großen Zahl von US-Amerikanern korrespondiert.

"Haben Kunstformen wie der Roman nicht schon immer die Wahrheit herausgefordert?", fragt Scheirer etwas überenthusiastisch. Und weiter: "Warum sollte man sich von neuen Innovationen im Bereich des Geschichtenerzählens abwenden, nur weil sie ein Ventil für Leute bieten, die sich etwas ausdenken wollen?"

Nicht KI-Fakes haben die Menschen zum Sturm auf das Kapitol angestiftet, sondern Demagogie

Ein ähnlich mildes Urteil fällt Scheirer auch über die Technik selbst. Für ihn sind die heutigen, nicht mehr von der Realität zu unterscheidenden Deepfakes in vielerlei Hinsicht die digitalen Stiefkinder früher fotografischer Satire wie etwa der viktorianischen Geisterfotografie. Und in der Tat wurden ja unmittelbar nach der Erfindung der Fotografie Methoden zur Bildverfälschung erfunden. Dann folgte mehr als ein Jahrhundert politisch motivierter Retusche. Wurde damals auch schon das Ende der Realität beklagt?

Schlussendlich könnte man leicht hinzufügen, dass die Vorstellung, ein Foto könne an und für sich eine Art von Wahrheit festhalten, schon immer eine Fiktion war. Schließlich ist es bereits eine Form der Manipulation, einfach einen Rahmen um einen Moment zu ziehen und ihn in Stillstand zu versetzen. Es lässt sich nicht vermeiden, dass einem eine bestimmte Perspektive, ein subjektiver Blickwinkel aufgezwungen wird, und es gibt keine Möglichkeit, diesen Blickwinkel aufzuheben, um zu reiner Objektivität oder "Realität" zurückzukehren.

Das Internet, gibt Scheirer zu, ist in der Tat voller gefälschter Inhalte, aber die überwiegende Mehrheit davon scheine darauf abzuzielen, soziale Verbindungen zu schaffen - und nicht zu zerstören. Nicht KI-Fakes haben die Menschen zum Sturm auf das Kapitol angestiftet, sondern gute alte Demagogie. Alles also nette Memes anstatt bösartiger, demokratiezersetzender Lügengebilde?

Konkrete Tipps, wie man sich vernünftig in einer Post-Wahrheits-Gesellschaft bewegen kann, lässt Scheirers Buch allerdings missen. Die Schuld für Fakes werde oft bei "bestimmten sozialen Technologien gesucht und denjenigen, die für deren Entwicklung verantwortlich sind". Bloße Verbote und regulatorische Eingriffe seien aber zu kurz gedacht. Denn wenn die Sehnsucht nach Lügen ein kulturelles Problem ist, braucht es für sie auch eine kulturelle Lösung.

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