Krieg in der Ukraine:Exodus

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Die Staatsmacht und die Kunst: Das Bolschoi-Theater mit einem russichen Soldaten bei der Wiedereröffnung 2011. (Foto: Maxim Shipenkov/dpa)

Rücktritt am Bolschoi in Moskau, ein Brandbrief aus dem Maly-Theater in St. Petersburg: Der Krieg zerreißt Russlands Kulturwelt. Immer mehr Künstlerinnen und Künstler wenden sich von Putin ab.

Von Moritz Baumstieger, Christine Dössel, Timo Posselt und Sonja Zekri

Zu den russischen Künstlern, die sich gegen Putins Einmarsch in die Ukraine positionieren und nicht so tun, als sei da kein Krieg, gehört nun auch er: Tugan Sochijew, seit 2014 Chefdirigent des Moskauer Bolschoi-Theaters. Der musikalische Leiter des weltberühmten Opernhauses trat am Sonntag von seinem Posten zurück und legte gleichzeitig auch sein Amt als Musikdirektor des Nationalorchesters am Opernhaus Capitole im französischen Toulouse nieder. Er tat dies unter dem Erklärungsdruck, dem sich derzeit viele russische Künstler ausgesetzt sehen. Siehe etwa Dirigentenkollege Valery Gergiev, der unter anderem seine Engagements in München und Mailand verlor, nachdem er nicht öffentlich zum Krieg in der Ukraine Stellung bezogen hatte.

Er sei vor einer "untragbaren Wahl" gestanden, schrieb der 44-jährige Sochijew in einer emotionalen Erklärung, nämlich entscheiden zu müssen zwischen seinem russischen und seinem französischen Orchester; wählen zu müssen zwischen zwei Kulturtraditionen. Viele Menschen hätten von ihm eine Haltung "zu dem, was derzeit passiert", erwartet, so Sochijew. Die "aktuellen Ereignisse" - von Krieg sprach er nicht explizit - riefen in ihm "komplexe Gefühle" hervor.

Der russische Dirigent Tugan Sochijew. (Foto: Eric Cababis/AFP)

Es sind die Gefühle eines Zerrissenen. Gefühle, wie sie derzeit viele Künstlerinnen und Künstler in Russland umtreiben. Er habe nie bewaffnete Konflikte unterstützt, schreibt Sochijew, der von 2012 bis 2016 auch Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin war. Anzunehmen, er könne "als Musiker jemals für etwas anderes als den Frieden auf unserem Planeten eintreten", finde er "schockierend und beleidigend". Nun aber zwinge ihn Europa, "eine Wahl zu treffen und ein Mitglied meiner musikalischen Familie dem anderen vorzuziehen". Für Sochijew unmöglich: "Bald werde ich aufgefordert, zwischen Tschaikowsky, Strawinsky, Schostakowitsch und Beethoven, Brahms, Debussy zu wählen. Dies geschieht bereits in Polen, einem europäischen Land, in dem russische Musik verboten ist." Hier jedoch geht der Dirrigent zu weit: In Polen haben einige Veranstalter russische Musik aus dem Programm genommen, verboten ist sie dort jedoch nicht.

Sochijews Rücktritt sei eine "sehr ernste Angelegenheit", hieß es aus dem Bolschoi- Theater. Es sei "nicht klar, wie sich die Situation entwickeln wird", sagte der Intendant Wladimir Urin, der einen Aufruf gegen den Krieg unterschrieben hatte und dafür von regierungsnahen russischen Medien heftig attackiert wurde. Sochijew, ein Künstler zwischen den Welten, ausgezeichnet mit dem russischen Verdienstorden für das Vaterland 1. Klasse ebenso wie mit dem nationalen Verdienstorden Frankreichs, ist der bisher prominenteste Fall in einer Reihe von Künstlern, die seit Putins Angriffskrieg auf die Ukraine ihren Job gekündigt haben. Elena Kovalskaya trat gleich am ersten Tag nach dem Einmarsch als Direktorin des Moskauer Meyerhold-Theaterzentrums zurück; auch Mindaugas Karbauskis, der Leiter des Majakowski-Theaters, legte sein Amt nieder. Mittlerweile sind Leiterinnen und Leiter fünf staatlicher Theater aus Protest zurückgetreten, ihr Haus solle deshalb übergangsweise mit einem anderen fusioniert werden, berichtet eine Moskauer Dramaturgin der SZ am Telefon.

"Das Hirn klebt am Schädel und weigert sich, solche Bilder zu sehen"

Andere Künstler formulierten trotz der Repressalien ihren Protest in Petitionen und Erklärungen in den sozialen Medien. Die russische Kulturzeitschrift Spectate berichtet von einem offenen Brief "für den Frieden in der Ukraine", den über 18 000 Kunst- und Kulturschaffende unterstützt hätten. Inzwischen sei die Unterschriftensammlung eingestellt worden, die Namen der Unterzeichnenden würden aus Sicherheitsgründen unter Verschluss gehalten. Auch die Spectate selbst sieht sich zu Vorsichtsmaßnahmen genötigt: Der Krieg wird "spezielle Militäroperation" genannt - das Wort jedoch mit einem Sternchen versehen. "*Auf Wunsch des Staats können wir die ,besondere militärische Operation' nicht anders nennen", schreibt die Redaktion unter den Text und erinnert gleich noch an Artikel 54 der Verfassung der Russischen Föderation, demzufolge Gesetze nicht rückwirkend angewandt werden dürfen - auch jenes nicht, das die Verwendung des Wortes "Krieg" in Bezug auf die Ukraine bei Androhung von bis zu 15 Jahren Gefängnis verbietet.

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In einem bewegenden Brief wandte sich unterdessen der große alte Mann des russischen Theaters Lev Dodin direkt an Putin. Der langjährige Direktor des Maly-Theaters in Sankt Petersburg beginnt seinen in der Theaterzeitschrift Teatr vröffentlichten Text mit den Worten: "Zu sagen, ich bin ,erschüttert' - das hieße, nichts zu sagen." Dodin, Jahrgang 1944, schreibt weiter: "Mir, einem Kind des Großen Vaterländischen Krieges, wäre das selbst in Albträumen nicht vorstellbar gewesen: russische Raketen, auf ukrainische Städte abgeworfen . . . Das Hirn klebt am Schädel und weigert sich, solche Bilder zu sehen, zu hören, darzustellen." Aufrüttelnde Worte eines über Russland hinaus berühmten, in seiner Heimat sehr einflussreichen, mit Staatspreisen überhäuften Theaterregisseurs, der in seiner Kindheit "Verteidigung von Moskau, Leningrad und Kiew" gespielt hat, wie er schreibt, und schon sehr deutlich benennt, was jetzt kommt: die Suche nach inneren und äußeren Feinden, die Umdeutung der Vergangenheit, die Neudeutung der Gegenwart. Sein Brief endet mit den Sätzen: "Ich bin 77 Jahre alt und habe in meinem Leben so viele Menschen verloren, die ich geliebt habe. Heute, wo statt Friedenstauben Raketen des Hasses und des Todes über unseren Köpfen fliegen, kann ich nur eines sagen: Stopp! Ich tue das einzige, was ich kann, ich flehe: Hören Sie auf! Hören Sie auf!"

"Ich flehe: Hören Sie auf", schreibt Theaterlegende Lev Dodin an Wladimir Putin. (Foto: Vladimir Gerdo/imago images/ITAR-TASS)

Bislang ist nicht bekannt, ob Dodin Konsequenzen für seine Worte drohen. Zwei seiner Kollegen erging es jedoch so - das wichtigste russische Theaterfestival "Goldene Maske", das derzeit in Moskau ausgetragen wird, nahm nach politischen Äußerungen spontane Programmänderungen vor. Regisseur Maxim Isajew hatte vor einer Woche Putin auf der Bühne des Moskauer Tagaka-Theaters aufgefordert, den Krieg zu beenden -die geplante zweite Aufführung seines Stücks "Das Märchen vom Goldenen Hahn" wurde gestrichen. Dirigent Ivan Welikanov war schon zuvor aus dem Programm getilgt worden, nachdem er sich ebenfalls gegen den Krieg positioniert hatte - die "Ode an die Freude" dirigierte nun Fabio Mastrangelo.

Verhaftungen wollen viele Kriegskritiker aus dem Kulturbetrieb jedoch nicht mehr riskieren. Manche erinnert der erzwungene Exodus an die Zeit vor hundert Jahren, als die bolschewistische Führung der damals jungen Sowjetunion die "aktiven konterrevolutionären Elemente und die bourgeoise Intelligenzija" aus dem Land warf, missliebige Denker und Intellektuelle. Sie kamen per Schiff nach Westeuropa, die Aktion ist bekannt unter dem Stichwort "Philosophenschiff". Im Gespräch mit der SZ zieht die Moskauer Dramaturgin noch einen anderen Vergleich, den mit dem Jahr 1937, als der Geheimdienst NKWD im Auftrag Stalins bei den "Großen Säuberungen" mehr als eine Million Menschen festnahm, die im Verdacht standen, nicht ausreichend linientreu zu sein. "Man kann nicht vorsichtig genug sein", sagt die Dramaturgin, sie prüfe gerade, wann und wohin sie ausreisen könne.

In Eriwan explodieren die Mietpreise

Kantemir Balagov, Regisseur und Gewinner zweier Preise beim Filmfestival in Cannes 2019, hat dies schon getan, auf Twitter postete er ein Bild von einem Flughafen. "Wir haben Russland verlassen", schrieb er am Sonntag. "Von einem Augenblick auf den anderen wurde uns die Zukunft genommen, eines aber können sie uns nicht entreißen - das KINO". Sein Herz sei bei den Ukrainern und jenen Russen, die gegen den "Albtraum" aufstünden. Auch die Autorin Ljudmila Ulitzkaja ist nicht mehr im Land, hieß es aus Verlagskreisen, der Präsident des deutschen PEN-Clubs Deniz Yücel weiß von einem weiteren geflohenen Autor, dessen Namen er aus Sicherheitsgründen im Gespräch mit der SZ jedoch nicht nennen will. Sein Verband könnte jedoch bald aktiv werden: Die Bundesregierung sei unter anderem bereits auf das PEN-Zentrum Deutschland zugegangen, um Lösungen für flüchtende Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu finden, wie Astrid Vehstedt, Verantwortliche des "Writers in Exile"-Programms der SZ am Montag bestätigte.

"Noch will ich keinen Eisernen Vorhang zwischen mir und meiner Heimat errichten": Ljudmila Ulitzkaja. (Foto: Claudia Thaler/picture alliance)

Neben Kulturschaffenden flüchten wegen des "Fake-News-Gesetztes" vor allem auch Journalisten aus dem Land. Tikhon Dzyadko, Chefredakteur des oppositionellen Senders "Dozhd" schickte vergangene Woche alle Mitarbeiter nach Hause, nachdem erste Drohungen die Redaktion erreichten. Der Sender beendete sein Programm daraufhin mit der selben Aufzeichnung des Balletts "Schwanensee", das das Staatsfernsehen 1991 während des Coup-Versuchs kommunistischer Hardliner gesendet hatte, Dzyadko floh mit seiner Familie nach Istanbul. Der Journalist Alexej Kovalev, der die Investigativplattform "Meduza" leitet, schlug sich mit mehreren Taxis in acht Stunden an die lettische Grenze durch, die er nach weiteren drei Stunden passieren konnte, wie Bekannte von ihm berichteten. Das Moskauer Magazin The Village, das eigentlich eher über Lifestyle als über Politik berichtet, hat seine gesamte Redaktion nach Warschau verlegt, nachdem seine Webseite vergangenen Donnerstag blockiert wurde. Nach einer Umfrage des russischen Investigativmagazins Agents hätten mehr als 150 Mitarbeiter von 17 Medienorganisationen das Land verlassen.

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Unter ihnen ist auch Marina Davydova, Chefredakteurin der Zeitschrift Teatr und künstlerische Leiterin des Moskauer Festivals "NET". Sie ist mit Hilfe des litauischen Botschafters aus Moskau geflohen. Nachdem sie eine Petition gegen den Krieg gestartet hatte, sei sie in Anrufen und Mails bedroht und ihre Haustür schwarz markiert worden, "das bedeutet, dass man jetzt alles mit mir machen kann, meine Wohnung anzünden, mich in einer dunklen Gasse umbringen". Sie hatte Todesangst. Jetzt sitzt sie in Vilnius und weiß nicht weiter. Nicht einmal auf ihr Konto hat sie Zugriff. Ihre russischen Karten funktionieren im Ausland nicht, und von einer Bank in Österreich, bei der sie auch noch Kundin ist, erhielt sie die Nachricht, dass ihr Konto gesperrt worden sei. "Ich bin verzweifelt", schreibt sie in einer Mail.

Cannes-Gewinner, der nicht mehr in Russland sein mag: Kantemir Balagov. (Foto: CHRISTOPHE SIMON/AFP)

Ziele der Ausreisenden sind vor allem jene Länder, die ihren Flugverkehr mit Russland nicht eingestellt haben. Dazu zählt neben der Türkei, den Kaukasus-Ländern Aserbaidschan und Georgien auch Israel. Dort machen Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion mehr als 20 Prozent der jüdischen Bevölkerung aus. Sie können manchem Neuankömmling aus Sankt Petersburg, Moskau oder Jekaterinburg so auch familiären Anschluss bieten. Weil russische Staatsbürger kein Visum benötigen, wird zudem Armeniens Hauptstadt gerade zu einem Zentrum einer neuen Generation russischer Dissidenten - und erlebt damit so etwas wie ein Déjà-vu: Schon in Sowjetzeiten war Eriwan ein beliebtes Ziel von Künstlern und Studenten, die hofften, in der Provinz weitab der sowjetischen Machtzentrale ein liberaleres Klima vorzufinden. Heute berichten armenische Journalisten, dass sich die Zahl der aus Moskau kommenden Flugzeuge vervielfacht habe: 24 Maschinen seien am Freitag gelandet, normal seien drei bis fünf, schreibt etwa Todar Baktemir auf Twitter. "An jeder Ecke hört man ängstliche russische Stimmen, die Preise für Unterkünfte steigen stündlich." Dazu passt der Bericht einer Gaststudentin: Ihre Vermieter hätten angerufen, ob sie nicht etwas früher ausziehen könne. Sonst müsse sie deutlich höhere Miete zahlen - das Zimmer sei nun eben mehr wert.

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