Berliner Theatertreffen 2022:Systemsprenger

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Die Münchner Kammerspiele sind mit dem Stück "Like Lovers Do (Memoiren der Medusa)" von Sivan Ben Yishai nominiert, inszeniert von Pınar Karabulut. (Foto: Krafft Angerer)

Nichts geht mehr ohne Bearbeitung, Choreografie und Musik: Zur Auswahl der zehn "bemerkenswertesten" Inszenierungen für das Berliner Theatertreffen.

Von Christine Dössel

Die jedes Jahr mit Spannung erwartete Auswahl zum Berliner Theatertreffen steht. Aus insgesamt 540 deutschen, österreichischen und Schweizer Inszenierungen hat eine siebenköpfige Jury die ihrer Ansicht nach "bemerkenswertesten" zehn Produktionen eines Jahres gekürt. Sie werden vom 6. bis 22. Mai in Berlin präsentiert, beim wichtigsten Festival der Branche. Bedingt durch die Pandemie wurden bei der Auswahl auch Videoaufzeichnungen und rein digitale Produktionen berücksichtigt. Und es gilt nach wie vor die 2020 eingeführte Frauenquote: Mindestens 50 Prozent der Inszenierungen müssen von Regisseurinnen sein. Frauen waren in früheren Jahren schon deshalb kaum beim Theatertreffen vertreten, weil sie gar nicht erst in Regiepositionen kamen. Das ändert sich gerade gewaltig. Eine Frau jedoch geht: Die Leiterin des Theatertreffens, Yvonne Büdenhölzer, gibt den Posten nach diesem Jahr ab.

Lineares oder gar klassisches Erzähltheater hat in Berlin längst keine Chance mehr. Alles, was irgendwie nach Mainstream, großen Namen und gefälligen "Crowd-Pleasern" riecht, meidet die Jury, als sei es anrüchig oder per se unbedeutend. Angesagt ist der hippe, woke, performative Genre-Mix, der Textflächentanz, das musikalisch-choreografische Systemsprengertum. Entsprechend wenig Breitenwirkung haben die meisten der ausgewählten Inszenierungen bisher gezeitigt, fast alles Uraufführungen, Bearbeitungen, performative Erkundungen. Spezialisten-Fundstücke, die in Berlin hoffentlich überraschen können und nicht zu Insider-Festspielen in einer sich selbst befriedigenden Theater-Bubble führen. Zwar ist auch ein richtiger Klassiker dabei, Schillers "Jungfrau von Orleans" (Nationaltheater Mannheim), allerdings in einer feministischen Bearbeitung von Joanna Bednarczyk, mit der die Regisseurin Ewelina Marciniak das Rollenstereotyp der Heiligen und Hure klug hinterfragt.

Auch Molière, dessen 400. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird, ist in "Der Tartuffe oder Kapital und Ideologie" eher nur Inspirator für einen Text von Soeren Voima, in dem es um den Neoliberalismus von heute geht, unter Zuhilfenahme des Bestsellers "Kapital und Ideologie" des französischen Ökonomen Thomas Piketty. Der unermüdlich - und oft recht plakativ - gegen die Auswüchse des globalen Kapitalismus aninszenierende Politregisseur Volker Lösch ist mit dieser Inszenierung am Staatsschauspiel Dresden seit 13 Jahren endlich mal wieder beim Theatertreffen vertreten. Er hat es verdient. Politisch ist auch die Romanadaption "Ein Mann seiner Klasse" nach dem Buch von Christian Baron, inszeniert von Lukas Holzhausen (Schauspiel Hannover). Es geht um Klassismus und darum, wie es ist, in diesem Land arm aufzuwachsen.

Ein erstaunliches Revival erlebt der gute alte Sprachkünstler Ernst Jandl, dem Claudia Bauer am Volkstheater Wien einen slapstickhaft opulenten Abend mit Maskenspiel und Musik gewidmet hat:"humanistää! eine abschaffung der sparten". Sehr frei nach Dante Alighieri, dem Autor der "Göttlichen Komödie", hat Theatertreffen-Darling Christopher Rüping seine Inszenierung "Das neue Leben" entwickelt (Schauspielhaus Bochum). Darin geht es um Dantes Gefühle für seine Angebetete Beatrice stellvertretend für alle Liebenden, wobei Rüping einen weiten popkulturellen Bogen schlägt bis hin zu Britney Spears und dem jüngst verstorbenen Meat Loaf.

Lindy Larsson in Yael Ronens famoser Musical-Inszenierung "Slippery Slope" am Berliner Maxim Gorki Theater. (Foto: Ute Langkafel)

Eine starke Stimme in der deutschen Gegenwartsdramatik ist die in Berlin lebende Israelin Sivan Ben Yishai. In ihrem wie eine Litanei geschriebenen Stück "Like Lovers Do (Memoiren der Medusa)", uraufgeführt an den Münchner Kammerspielen, thematisiert sie radikal drastisch und hart die Strukturen von sexualisierter Gewalt. Die der Brutalität des Textes grell gegenläufige, spaßig-neonbunte Hüpfburg-Inszenierung von Pınar Karabulut muss man mögen. Die Jury mochte sie. Grell, queerbunt und selbstbewusst geht es auch in Yael Ronens Inszenierung "Slippery Slope" zu, die von der Cancel Culture bis hin zu Genderfragen heiße Gegenwartsdebatten in Musical-Form packt. Die Produktion ist am Berliner Gorki-Theater ein Hit.

Ganz anders die Tonart in "All right. Good night.", herausgekommen am Berliner HAU: ein Stück, in dem Helgard Haug von der Gruppe Rimini Protokoll das plötzliche Verschwinden des Malaysia-Airlines-Flugs MH370 vom Radar im März 2014 mit der fast zeitgleich einsetzenden Demenz ihres Vaters zu einem leisen Abend über Verschwinden und Verlust verbindet. Die Auswahl komplettieren zwei Hamburger Produktionen: Vom Thalia Theater kommt, nein: nicht "Der schwarze Mönch" von Kirill Serebrennikow, sondern "Doughnuts", eine Arbeit des japanischen Regisseurs Toshiki Okada über japanische Kosmopoliten in einem Hotelfoyer. Und das Schauspielhaus ist mit "Die Ruhe" vertreten, der neuen Produktion des tatsächlich meist sehr aufregenden Performance-Kollektivs Signa, das die Zuschauer in seinen immersiven Inszenierungen fremden Welten aussetzt, hier: einer Art Kur in einem "Erholungsinstitut" mit Wald- und Naturerfahrung und der Gefahr, sich in einer Sekte (oder eben: einer ganz eigenen Blase) zu verlieren.

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