Sprache der Ampel:Kollisionsforschung, proaktiv

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Alles ändert sich, aber keine Sorge: Ganz so schlimm kommt es auch wieder nicht. Die Koalitionsspitzen bei der Vorstellung ihres Papiers vor einer Woche. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Zur selbstaufmunternden und mitunter rätselhaften Sprache im Koalitionspapier von SPD, Grünen und FDP.

Von Hans Hütt

Das Leitmotiv des Koalitionsvertrags "Mehr Fortschritt wagen" erinnert an ein berühmtes Zitat aus der ersten Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt: "Wir wollen mehr Demokratie wagen." 52 Jahre später sind diesem großen Satz das Wir und das Wollen abhandengekommen. An die Stelle der Demokratie tritt der Fortschritt, ein sich offenbar quasi von selbst erklärendes Vorhaben, das der Geschichte Beschleunigung verordnet, als sei sie nicht schnell genug und als ließe sie sich das Tempo vorschreiben. Verwandelt sich Fortschritt nun in ein in die Politik verpflanztes Naturgesetz? Naturgesetzen ist die Idee des Wagnisses fremd. Sie vollziehen sich halt. Im Wagnis aber erklingen gemischte Gefühle - von Mut und Selbstermunterung bis zu Beklemmung und Pfeifen im Walde. Welche Antriebskräfte stecken in der Rhetorik des Programms der nächsten Bundesregierung?

Den Anfang macht der Tonfall des Entschlossenseins. In Alltagsprosa übersetzt hieße das etwa so: Wir haben die Mehrheit. Wir werden sie nutzen und das Land modernisieren. Fürchtet euch nicht. Seid gewiss: Alles ändert sich. Nichts bleibt, wie es ist. Aber: Ganz so schlimm kommt es auch wieder nicht! Alles steht auf dem Spiel, wenn wir uns nicht auf unsere Kräfte besinnen und so Freiheit, Wohlstand und Sicherheit bewahren. Unser Staat ist für die vor uns stehenden Aufgaben unzureichend gerüstet. Unser Land driftet zwischen Norden und Süden, zwischen Osten und Westen auseinander. Noch haben wir keine gleichen Lebensverhältnisse für alle erreicht. Das soll sich ändern. Die Erde darf sich nicht weiter erwärmen. Wir wollen das fossile Zeitalter beenden. Wir spielen zurzeit leider nur in der Regionalliga, aber wollen wieder in die Spitzenliga aufsteigen. Dafür brauchen wir alle!

Einspruch ist eher unerwünscht. Die Einladung zum Mitmachen erfolgt unter Vorbehalt

Aber: Das alles ist kein Grund zur Beunruhigung! Auch Texte haben eine DNA, die sich wie von selbst an solchen Stellen in Erinnerung bringt, auch wenn das Autorenkollektiv so tut, als ließe sich das verhindern. Ein Quäntchen zu viel Selbstermunterung steckt in dieser Prosa. Verdankt sie sich dem Verdruss über zu viele Jahre großer Koalitionen? Einspruch ist, bis auf Weiteres, eher unerwünscht. Die Einladung zum Mitmachen erfolgt unter Vorbehalt. Kritik ist nicht willkommen.

Eher geht es hier so: Unser Staat soll das Leben einfacher machen. Dafür wollen wir schneller und effektiver arbeiten. Wir schaffen das, wenn wir mehr Zusammenarbeit ermöglichen, auch wenn wir den dazu erforderlichen Zeitaufwand noch nicht beziffern können. Wir lassen uns daran messen, was wir in vier, acht und zwölf Jahren erreicht haben. Diese Koalition, das wird aus der Sprache deutlich, plant für mindestens ein Jahrzehnt. Das mag auch daran liegen, dass die Unionsparteien auf die neue Aufgabe der Opposition denkbar schlecht vorbereitet erscheinen. Man muss ja auch der Union Zeit geben, wieder auf die Beine zu kommen.

"Mehr Fortschritt wagen", das erinnert an Willy Brandts "Wir wollen mehr Demokratie wagen", nur sind das Wir und das Wollen abhandengekommen. Cover des Koalitionsvertrags. (Foto: MICUS Strategieberatung GmbH/obs)

Einen Satz gibt es in dem Dokument, der der Welt von heute den Boden unter den Füßen wegzieht. "Wir werden proaktives Verwaltungshandeln durch antragslose und automatisierte Verfahren gesetzlich verankern." Gut, dass im Dunkeln bleibt, für welche Verwaltungsaufgaben solche Automatismen vorgesehen sind, und dass noch niemand weiß, wann und wo sie das erste Mal damit zuschlagen, wenn sie nicht nur dem aktiven Handeln, sondern sogar dem proaktiven Handeln an die Gurgel gehen. Das Autorenkollektiv versteckt da die Katze im Sack. Wann sie da wohl wieder herauskommt? Wachsamkeit ist jedenfalls geboten.

"Wir wollen Gesetze verständlicher machen." Das Versprechen darf als gesetzgeberisches Schuldbekenntnis außerhalb des Beichtstuhls verstanden werden. Wir haben gesündigt und bitten um Vergebung. Einspruch wird öffentlich auch von denen nicht zu hören sein, die bisher aus Unverständlichkeit Nutzen zogen. "Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte nutzen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben." Wie viel Bürgerarbeit darf es denn sein, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben? Wird die Verwaltung mitziehen oder nur über die damit verbundene Mehrarbeit beklagen?

Das Kapitel zur digitalen Infrastruktur klingt nach einem Angebot an IT-Haifische

"Deutschland braucht einen umfassenden digitalen Aufbruch." Nach welchem Muster soll das laufen? Die Idee, eine Bundeszentrale für digitale Bildung ins Leben zu rufen, ist uneingeschränkt zu begrüßen. Das Kapitel zur Zukunft der digitalen Infrastruktur der Republik aber ist insgesamt geprägt durch den Jargon von IT-Beratungen. Es klingt kryptisch, ehrgeizig und nach einem Angebot an das IT-Haifisch-Völkchen, schnell und entschlossen zuzuschnappen.

"Wir sorgen für Tempo beim Infrastrukturausbau durch schlanke digitale Antrags- und Genehmigungsverfahren, Normierung alternativer Verlegetechniken und Aufbau eines bundesweiten Gigabit-Grundbuchs." Im Tonfall und Wortlaut oszilliert das Kapitel zwischen Nachrichten in leichter Sprache und Wolkenmetaphorik: "Wir haben Lust auf Zukunft und den Mut zu Veränderungen, sind offen für Neues und werden neue technologische, digitale, soziale und nachhaltige Innovationskraft entfachen." Die Lieferantenherzen jauchzen Hosianna.

Im Abschnitt "Forschung und Wissenschaft" wird Plattitüden-Bingo gespielt

"Die Stärke unserer Innovationskraft liegt in den Regionen, denn viele neue Ideen entstehen vor Ort, wo innovativ an den Lösungen der Zukunft gearbeitet wird." Solche Sätze im üblichen Geschäftsführer-Deutsch haben aus Vorsatz nichts mitzuteilen. Der einzige Schluss, der sich daraus ziehen lässt, ist die Aufforderung an die Fachwelt, aufmerksam die nächsten Ausschreibungen zu prüfen, nachdem der nächste Bundeshaushalt verabschiedet ist. Das "vor Ort" befindet sich nirgends und überall. Im Kapitel Forschung und Wissenschaft mündet die Fachhuberei des Dokuments endgültig ins Plattitüden-Bingo: "denn wo Fortschritt entsteht, muss er auch gelebt werden."

Dann ist da natürlich die Sache mit dem Klima. "Wir denken ökonomische Entwicklung und ökologische Verantwortung zusammen. Es gilt, zu erhalten, was uns erhält und unsere Ressourcen zu schützen." Nachhaltigkeitsprosa ist eine Textsorte, die sich inzwischen weitgehend automatisiert herunterhaspeln lässt. Der weihevolle Kanzelton wandert so aus den Kathedralen ins Öko-Management. "Insbesondere der Kampf gegen das Artensterben, verlangt hohe Aufmerksamkeit und politisches Handeln." Da schau her. Das falsche Komma in dem Satz dokumentiert nur die Eile im Prozess der Texterstellung ("Haben wir das Klima drin?"). Trivialität nahm man billigend in Kauf.

"Unser Ziel ist eine nachhaltige, zukunftsfähige Landwirtschaft, in der die Bäuerinnen und Bauern ökonomisch tragfähig wirtschaften können und die Umwelt, Tieren und Klima gerecht wird. Wir stärken regionale Wertschöpfungsketten und tragen zum Erhalt ländlicher Strukturen bei." Gibt es bitte gut versteckte Winkelchen, in denen die nächste Bundesregierung mit solchen Sätzen für die Begleichung von Umweltsünden auch Ablasszettel verkaufen wird? Sünden muss sich lohnen!

Mit diesem Fazit ergibt sich der Leser ermattet vor der Wucht des Dokuments und seinen Unwuchten. Die Bundesregierung muss nun einen Weg finden, aus den hohen, teils auch hochkryptischen Details ihres Koalitionsvertrags eine Pragmatik zu finden, die das Volk bei Laune hält und aus den Versprechungen Wirklichkeit entstehen lässt.

Aus der Bibel wissen wir, dass wir sonst auch Finger in offene Wunden legen dürfen. Immer gern geschehen.

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