Alice Weidel lebt mit einer Frau zusammen und erzieht mit ihr zwei kleine Söhne - und sie ist AfD-Spitzenkandidatin. Ex-Breitbart-Journalist Milo Yiannopoulos ist schwul - und hetzt gegen Minderheiten. Menschen mit Migrationshintergrund wählen den rechtsradikalen Front National. Wie kann das sein? Sozialpsychologin Beate Küpper forscht über Vorurteile und erklärt, was diese Menschen antreibt und warum sie sich im Grunde selbst betrügen.
SZ: Alice Weidel ist lesbisch und vertritt als AfD-Spitzenkandidatin eine Partei, die gegen die Homo-Ehe ist, die die "traditionelle Familie" als Leitbild in ihrem Programm verankert und Vorbehalte gegen die Gleichstellung der Geschlechter hat. Ist das für Sie ein Widerspruch?
Beate Küpper: Jein. Die AfD hetzt ja nicht nur gegen Lesben und Schwule, also im Fall von Frau Weidel gegen die eigene Minderheit, sondern auch gegen andere Minderheiten, also vorzugsweise Muslime und Flüchtlinge.
Und die sind schlimmer als Homosexuelle?
Implizit ja. In einer Untersuchung haben wir festgestellt, dass Muslimen tatsächlich weniger Sympathie entgegengebracht wird als Homosexuellen.
Wenn es sein muss, kritisiert Frauke Petry aber schon auch schwule Pärchen im Fernsehen und Björn Höcke bezeichnet Gender-Mainstreaming als "Geisteskrankheit". Blendet Alice Weidel das aus?
In gewisser Weise ja. Zum einen macht sie mit bei der Unterdrückung ihrer eigenen Minderheit - und findet das in Ordnung. In unserer Gesellschaft existieren sogenannte legitimierende Mythen, die auf Vorurteilen basieren. Die Mär vom erfolgreichen weißen Mann etwa, oder von der Frau, die sich besser um die Kinder kümmert - oder eben von den Homosexuellen, mit denen irgendetwas nicht stimmt. Indem sich Weidel also der AfD anschließt, demonstriert sie ihre Zugehörigkeit zu einer dominanten Mehrheit. Und lieber gehört man denen an als denen, gegen die gehetzt wird. Das ist schlicht und einfach Anbiederung. Auf der anderen Seite geht es um die eigene Zugehörigkeit. Muslime sind für die AfD der äußere Feind. Je mehr man über den herzieht, desto geschlossener werden die inneren Reihen der Partei. Auch als lesbische Frau kann man dann dazugehören. Diese Mechanismen von Selbstaufwertung und Integration sind in der sozialpsychologischen Vorurteilsforschung vielfach belegt.
Man wertet sich selbst also auf, indem man andere runtermacht?
Genau - und je deutlicher man den Gegensatz der eigenen Gruppe zu "den Anderen" betont, desto wunderbarer kann man sich abgrenzen. Wenn man die Anderen dann runtermacht, steht man auf bequeme Weise automatisch besser da. Vorurteile sind dabei sehr nützlich als Mittel zum Zweck. Sie geben uns Argumente und Begründungen an die Hand, warum es schon ganz richtig ist, dass einige weiter oben, andere weiter unten auf der sozialen Leiter stehen.
Ist das nicht Selbsttäuschung?
Zum Teil. Nicht wenige Menschen akzeptieren soziale Hierarchien, also dass einige weiter oben stehen als andere. Sehen Sie sich etwa die Frauen an, die Trump gewählt haben. Sie unterstützen damit einen Präsidenten und seine Partei, bei denen Frauen in der Rangordnung weiter unten stehen. Aber sie suchen sich eine andere Gruppe, in dem Fall Eingewanderte aus Lateinamerika, die noch weiter unten stehen - und fühlen sich dadurch besser. Welche Gruppe gerade ganz unten steht, ist unterschiedlich. Populisten ändern das gerne ganz nach der Situation. Vor Islamfeinden keilen sie dann gegen Muslime, vor einem weißen Publikum gegen Schwarze, und so weiter.
Die Furcht vor Zuwanderung ist größer als die Angst vor der eigenen Diskriminierung?
Dass das Angst ist, sagen Sie. In den Gesichtern von Pegida- oder AfD-Anhängern ist ja vor allem Wut zu lesen. Nein, das Feindbild Muslime funktioniert gerade einfach besonders gut. Auf dieses Feindbild kann gerade alles projiziert werden, von dem man sich positiv abgrenzen will, etwa indem man Muslimen undemokratische Werte, Homophobie oder eine besondere Neigung zu Gewalt und Kriminalität unterstellt. Wenn Anne Will dann eine Hardcore-Islamistin mit Vollverschleierung in ihre Talkshow einlädt, sagen sich 99 Prozent der Zuschauer vorm Fernseher: Wir sind ja viel besser. Da verschwimmen auf einmal alle anderen kleinen Ungleichwertigkeiten in der Mehrheitsgesellschaft.
Aber dieses Prinzip blendet doch völlig aus, dass wir in Sachen Gleichberechtigung und Gleichstellung noch lange nicht am Ende sind?
Exakt. Nehmen wir die Akzeptanz der Geschlechter. Da hat sich in unserer Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten einiges getan, aber an vielen Stellen hakt es eben immer noch. Wenn die AfD nun aber betont, dass Muslime ja noch viel weiter von der Gleichberechtigung entfernt seien als wir, lenkt sie von der eigenen Verantwortung ab und muss sich keine unangenehmen Fragen gefallen lassen. Auf einmal wird ausgeblendet, dass sich die Leute, die jetzt Muslime patriarchalische Rollenvorstellungen vorwerfen, noch vor Kurzem gegen die Quote für Frauen in Dax-Unternehmen ausgesprochen haben.
Außerdem hat man ja eine homosexuelle Spitzenkandidatin.
Genau, damit wird es viel schwerer, der Partei Homophobie vorzuwerfen. Und Weidel lenkt noch stärker von sich ab, weil sie eine ziemlich radikale Haltung gegenüber Muslimen vertritt. Ähnlich verfährt Jens Spahn. Wenn der homosexuelle CDU-Politiker ein Islamgesetz fordert, lenkt er davon ab, dass gerade die Konservativen in seiner eigenen Partei die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen ablehnen. Aber auf diese Weise profitieren beide Seiten: Diejenigen Politiker, die einer Minderheit angehören, fühlen sich der Partei zugehörig, auch wenn die gegen die eigene Minderheit hetzt. Das blenden sie aus. Und die Partei macht sich umgekehrt nach außen hin weniger angreifbar.
Geht das für Politiker wie Alice Weidel auf Dauer gut?
Schwierig zu sagen. Wenn es hart auf hart kommt, gehört sie der Gruppe an, gegen die als nächstes gehetzt wird. Jetzt kann man sie gut gebrauchen, aber durch diesen "Makel" steht sie auf der Abschussliste ganz oben.
Andere Frage: Tut man ihr nicht unrecht, wenn man sie auf ihr Lesbischsein reduziert?
Ja, insofern wir implizit annehmen, Minderheiten seien die besseren Menschen. Das ist die alte "Arm, aber anständig"-Ideologie, die jedoch ignoriert, dass es auch unter Muslimen oder Homosexuellen Menschen mit Vorurteilen gibt - wie eben überall.
Wenn dieses Hierarchiedenken so gesellschaftsimmanent ist, wie kommen wir da raus?
Wir sollten nicht in Gruppen denken, sondern als gemeinsames großes Wir. Kanzlerin Merkel lag mit ihrem berühmten Satz "Wir schaffen das" schon ziemlich richtig. Allerdings nimmt sie uns damit gleichzeitig in die Verantwortung. Und das ist natürlich anstrengend.