"Bardo" bei Netflix:Frei von jeglicher Bodenständigkeit

Lesezeit: 3 min

"Es ist der erste Film, bei dem ich das Bedürfnis hatte, meine Augen geschlossen zu halten", sagt Regisseur Iñárritu. (Foto: AP)

Die Filme des Erfolgsregisseurs Alejandro González Iñárritu sind Meisterstücke des egomanischen Kinos - wuchtig und fantastisch. In "Bardo" geht es nun um das Überschreiten von Grenzen.

Von Fritz Göttler

Ein Mann will fliegen in den ersten Minuten dieses Films, man sieht seinen langgezogenen Schatten in der abendlichen Wüste, blickt durch seine Augen, er nimmt hastig Anlauf, um in Schwung zu kommen, es klappt nicht gleich beim ersten Versuch. Vom Boden abzuheben, damit ist natürlich die Situation von Alejandro González Iñárritu, einer der ambitioniertesten Filmemacher der Welt, emblematisch reflektiert - aber auch die Situation des Kinos überhaupt, das seit über einem Jahrhundert die Möglichkeiten der Kamera erforscht, den neuen Blick im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Welt. Mit Drohnen, die unbemannt zu extremer Beweglichkeit fähig sind, hat der filmische Blick grenzenlose Freiheit und Unbeschwertheit erreicht, er ist subjektfrei geworden, eine Vision ohne Visionär. Der Anthropozentrismus ist aus dem Kino geschwunden. Nur der Schatten bleibt auf der Erde zurück, als Unterpfand überwundener Schwerkraft.

Nach sieben Jahren präsentiert Iñárritu mit "Bardo" also seinen neuen Film. Der Überflieger darin, der Kämpfer gegen die Schwerkraft, ist Silverio Gacho, ein erfolgreicher mexikanischer Journalist und Dokumentarfilmer, gespielt wie ein Double des Regisseurs von Daniel Giménez Cacho. Silvio will sich frei machen von der Bodenständigkeit der Geschichte, der eigenen und der seines Landes Mexiko, dessen Landesfarben in den Credits des Films präsent sind.

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Aber es gibt immer wieder Gegenkräfte. Einmal wird man Silverio im Tiefschlaf am Boden sehen, kaum zu wecken, später wird ihm, in einer hektischen Traumvision, der Fuß am Boden festgenagelt, sodass er nicht von der Stelle kann. In einer anderen Vision sieht man ihn durch Mexico City ziehen, um ihn her fallen die Menschen auf der Straße reihenweise zu Boden und bleiben liegen. Es ist der erste Film, den Iñárritu wieder in Mexiko drehte, über zwanzig Jahren nach "Amores Perros". Es ist ein Privileg, im Ausland zu leben, sagt Iñárritu, er hat die produktive Entfremdung des fremden Landes Amerika für seine Filme gebraucht und erfolgreich genutzt - in zwei aufeinanderfolgenden Jahren hat er den Oscar als bester Regisseur bekommen, für "Birdman" und für "The Revenant", zwei Meisterstücke des egomanischen Kinos.

Sein Ruhm in den USA ist für ihn wie eine verquere Form von Kolonialismus

Auch Silverio ist ein Grenzgänger in Raum und Zeit, er lebt und arbeitet in Los Angeles, aber nun soll er endlich einen wichtigen Preis in Mexiko erhalten und kehrt in sein Heimatland zurück, wo er sich bewegt wie ein lateinamerikanischer Don Quijote. Er hat Bammel vor der Konfrontation, schwänzt eine große Talkshow. Der Ruhm in den USA, das Haus, das er dort führt, ist für ihn wie eine verquere, perverse Form von Kolonialismus. "Es ist der erste Film", sagt Iñárritu, "bei dem ich das Bedürfnis hatte, meine Augen geschlossen zu halten, und wenn man das tut, schaut man nach innen, und das ist ein sehr viel komplexeres Territorium..."

Zwischen Diesseits und Jenseits, Realität und Traum bewegt sich Silverio auf seinen Grenzgängen, und oft sieht das Reich der Toten erschreckend aus wie unsere reale Welt. Es gibt surreale Begegnungen mit seinem Vater, der ihn auf fiese Art klein hält, und mit Hernán Cortés, dem Eroberer, der ihn auf einem Leichenberg empfängt. Bardo bezeichnet im tibetischen Totenbuch einen Grenzbereich zwischen Tod und Wiedergeburt, ein Niemandsland.

Der Film ist vom magischen Realismus der südamerikanischen Literatur inspiriert, von Borges und Fuentes und Octavio Paz, er erinnert an Filme von Buñuel oder Glauber Rocha. Ein Film ohne feste Struktur, sagt Iñárritu, er hat nur ein emotionales Gravitationszentrum: "Aber er wurde mit vollkommener Kontrolle gefertigt, jedes einzelne Bild, jede Bewegung war vorgezeichnet und geprobt." Das Bombastische, das Egomanische hat ein absolut leeres Zentrum - das war schon bei Fellini zu spüren, als er die Leiden eines erfolgreichen Filmemachers spektakulär illustrierte in "Achteinhalb", mit Marcello Mastroianni.

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"Bardo" lief im Wettbewerb auf dem Festival in Venedig, danach hat Iñárritu ihn um zwanzig Minuten gekürzt. Diese Fassung hat Netflix gekauft, und bevor der Streamingdienst sie exklusiv programmiert, wird sie für kurze Zeit dort zu sehen sein, wo der Film hingehört: in Kinos, auf der großen Leinwand.

Vor "Bardo" hatte Iñárritu eine Virtual-Reality-Installation in Los Angeles gemacht, "Carne y Arena (Flesh and Sand)", für die befragte er Hunderte Immigranten, die unter schlimmen Bedingungen über die Grenze kamen, nach ihren Erfahrungen. Am Ende von "Bardo" sind solche Erfahrungen ins Absurde verfremdet, bei der Rückreise aus Mexiko sagt Silverio zu dem jungen Passbeamten eher beiläufig "America, this is my home". Das dürfe er nicht sagen, korrigiert ihn der Beamte, und fast kommt es zu einem erbitterten Kampf um dieses Wort - selbst das Militär schaltet sich ein. "Vielleicht", sagt Iñárritu, "bin ich zu mexikanisch für die Amerikaner und zu amerikanisch für die Mexikaner."

Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten , Mexiko 2022 - Regie: Alejandro González Iñárritu. Buch: Alejandro González Iñárritu, Nicolás Giacobone. Kamera: Darius Kondhji. Musik: Bryce Dessner, Alejandro González Iñárritu. Mit: Daniel Giménez Cacho. Griselda Siciliani, Ximena Lamadrid, Iker Sanchez Solano, Jany O. Sanders, Andrés Almeida. Netflix, 159 Minuten. Kinostart: 17.11.2022. Streaming-Start: 16.12.2022.

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