Wohnungslosigkeit:"Auf der Straße gibt es kein Sie"

Lesezeit: 4 min

Früher hatte Klaus Billmeyer immer eine Eisenstange neben sich, wenn er auf der Straße schlief - um sich wehren zu können, falls er angegriffen wird. (Foto: Jasmin Siebert)

Klaus Billmeyer war zehn Jahre lang obdachlos. Heute zeigt er seine Stadt Nürnberg bei Führungen aus der Perspektive derer, die ganz unten sind. Unterwegs mit einem Mann in seinem neuen Leben.

Von Jasmin Siebert

Letzter Stopp, ein kleiner Park mit Blick auf den Nürnberger Hauptbahnhof, früher Treff für Dealer und andere zwielichtige Gestalten. Die Teilnehmer, acht Stipendiatinnen und Stipendiaten einer Studienstiftung, haben sich auf Bänke verteilt. Bisher war die Führung, bei der die Nürnberger Altstadt vor allem Kulisse war für Klaus Billmeyers eigene Lebensgeschichte, eher heiter.

Doch jetzt wird die freundliche Stimme des 60-Jährigen schärfer. "Wenn ihr löchrige Jeans tragt, waren sie teuer", sagt er, "aber wenn wir Löcher in der Kleidung haben, sind wir Assis." Betretene Blicke der Zuhörerinnen und Zuhörer. Wenn Studenten durch die Stadt torkeln, dann seien das junge Leute, die feiern. "Aber wenn wir uns die Birne wegknallen, weil wir das Scheißleben nicht mehr ertragen, sind wir Assis", ruft er lauter und hebt drohend den Zeigefinger.

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Seit 2008 bietet das Nürnberger Sozialmagazin Straßenkreuzer Stadtführungen an, in denen es um die geht, die ganz unten sind. Selbst von Armut, Drogenabhängigkeit oder Obdachlosigkeit betroffene Menschen stellen Hilfseinrichtungen vor und erzählen ihre Lebensgeschichte. Etwa 27 000 Interessierte haben bisher an den Führungen teilgenommen, darunter Schüler genauso wie Manager auf Betriebsausflug. Ähnliche Angebote gibt es auch in anderen Großstädten wie in Hamburg, Berlin, Wien, Frankfurt und Düsseldorf.

"Ich könnte jetzt behaupten, der Alkohol war schuld, aber ich war selber schuld!"

Klaus Billmeyer lebte zehn Jahre lang in Nürnberg auf der Straße, er bietet gleich das Du an. "Auf der Straße gibt es kein Sie", sagt der gelernte Pflasterer und geht los, vorbei an Burgerläden und Sexshops. Vor dem Sleep-In hält er an, einer Notschlafschlafstelle für Jugendliche von 14 bis 21 Jahren, zeigt Fotos mit kargen Matratzen vor kahlen Wänden.

Billmeyer selbst hat in all den Jahren draußen nur zwei Nächte in einer Notschlafstelle und eine in einer Obdachlosenpension verbracht. Die Straße fand er sauberer und sicherer. "Warum bist du arbeitslos, äh obdachlos geworden?", fragt ein Teilnehmer, und Billmeyer erzählt, wie er seinem Chef im Suff eine gescheuert habe. "Ich könnte jetzt behaupten, der Alkohol war schuld, aber ich war selber schuld!"

Er mag solche persönlichen Fragen. Wieder und wieder von seinem Leben zu erzählen, helfe ihm beim Verarbeiten, sagt er. Anstatt Arbeitslosengeld zu beantragen, vertrank er damals lieber sein letztes Geld. Und weil er irgendwann seine Miete nicht mehr zahlte, landete er mit 46 Jahren auf der Straße. "Ich Depperla", sagt er, wenn er von seinem Abstieg erzählt. Er wusste nicht, dass es ein Amt für Existenzsicherung gibt, das Mietschulden übernimmt, um einen Rauswurf doch noch abzuwenden. Billmeyer fordert, dass schon in der Schule besser über Hilfsangebote aufgeklärt werden müsse. Er selbst empfiehlt die Bahnhofsmission als erste Anlaufstelle für Menschen in Not.

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Im Sommer schlief er im Park, im Winter vor einer Werkstatt

Während die Gruppe weitergeht, erzählt er von seiner "Platte": Im Sommer schlief er im Park, im Winter vor einer Werkstatt. Immer mit einer Eisenstange neben sich. Und nachdem er das erste Mal überfallen worden war, habe er seinen Schlafsack auch bei minus 19 Grad nicht zugemacht. "Da bleibt man frisch", sagt Billmeyer, der seinen Humor nicht verloren hat. Die Arbeit bei Wind und Wetter auf dem Bau habe ihn abgehärtet, sodass er die Jahre auf der Straße im Gegensatz zu vielen anderen gesundheitlich gut überstanden habe.

Ob es eine Taktik gebe, sich auf die kalten Nächte vorzubereiten, will ein Student wissen. Für die richtige Ausrüstung müsse man Kleiderkammern abklappern, also Geschäfte, die Gebrauchtes sehr günstig verkaufen. Weil sie ständig der Witterung ausgesetzt ist, verschleiße die Kleidung schneller als bei "Normalos". Campingkocher und Essen aus der Dose seien auch zu empfehlen. "Studenten essen Dosenravioli, wir auch", sagt Billmeyer. Alle lachen, "stimmt", sagt einer, als fühle er sich ertappt. Für einen Moment lang sind sich beide Seiten nah, so unterschiedlich ihre Lebensrealitäten auch sind.

Der nächste Stopp ist ein Hinterhof in der Nähe der Stadtmauer. Wie Wespennester, nur in bunt und rechteckig, klebt hier ein Dutzend Blechboxen an der Wand. Anders als in asiatischen Großstädten sind diese Boxen aber nur ein Kunstprojekt, in dem niemand wohnen darf. Während Teilnehmerinnen Fotos knipsen, erzählt Billmeyer, dass er selbst eineinhalb Jahre in einem "Little Home" gelebt hat: in einem winzigen Blechcontainer, der für ihn auf dem Gelände eines Kulturzentrums aufgestellt worden war. Er genoss es, seinen eigenen Schlüssel im Schloss umzudrehen und sein "Gerödel", seinen 35 Kilo schweren Rucksack, sicher unterbringen zu können.

2018 ging es aufwärts, so richtig

Dass sie keinen sicheren Ort haben, ist ein Problem, mit dem alle Obdachlosen zu kämpfen haben. Es sei schwer und unpraktisch, all seinen Besitz ständig mit sich herumzuschleppen. Auf Billmeyers Anregung hin hätten Politiker tatsächlich schon Schließfächer aufgestellt, allerdings nicht sonderlich zentral, irgendwo im Nürnberger Norden. Er wünscht sich Spinde in der Innenstadt. In anderen Städten fordern Helfer mehr Trinkwasserbrunnen, damit Obdachlose bei Hitze nicht Durst leiden.

Auf der Straße fehlte ihm irgendwann eine sinnvolle Beschäftigung. Er vermisste normale Unterhaltungen, die nicht darum kreisten, wer noch ein "Seidla" oder eine "Drehung" übrig hat, also ein Bier oder eine Zigarette. Und so begann er, Pfandflaschen zu sammeln. Mindestens fünf Euro Pfand am Tag war sein Ziel, bald erhöhte er es auf zehn Euro. Vorher gab es kein Bier.

Es waren vor allem die Freundschaften, die Klaus Billmeyer durch die schwierigsten Jahre seines Lebens trugen. "Wenn man sich wieder mit Menschen abgibt, kann vieles passieren", sagt er. So lernte er eine Frau kennen, die ihm 2018 eine Wohnung anbot. Im selben Jahr kam er mit seiner Freundin zusammen. Da hatte er schon angefangen, das Obdachlosenmagazin zu verkaufen und Stadtführungen zu geben. Es ging aufwärts. Bald wurde er beim Pfand-Sammel-Projekt des Straßenkreuzers festangestellt. Er kümmert sich darum, dass die vollen Sammeltonnen, die unter anderem am Flughafen stehen, geleert werden, und teilt die anderen Mitarbeiter in Schichten ein. Billmeyer ist wieder bei den Normalos angekommen.

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