Fußball-Nationalmannschaft:Unglückliches Scheitern oder Notwendigkeit eines Neuanfangs?

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Enttäuschter Fan nach dem Aus in Katar: Ein Traum ist zerplatzt. (Foto: Christian Charisius/dpa)

SZ-Leser analysieren das frühe Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft in Katar. War das vorhersehbar? Was sollte sich ändern?

"Good luck for Dschörmany", "Die Entfremdung", "Aus. Schluss?" und "Generation Nix" vom 3./4. Dezember, "Das Drama von al-Chaur" vom 2. Dezember:

Spiegel der Gesellschaft

Das frühzeitige Ausscheiden der Fußball-Nationalmannschaft ist aus meiner Sicht ein wunderbarer Spiegel unserer Gesellschaft. Wir glauben, groß zu sein und wieder Weltmeister zu werden - und sind seit Jahren träge, fantasiearm und vor allem fehlt der Biss. Andere Nationen haben uns längst überholt, die früher bewundernd nach Deutschland schauten - sowohl im Fußball auch als bei der Umsetzung von Projekten jeder Art.

Dipl. Ing. Georg Hille, Freiburg

Was haben die Medien erwartet?

Die deutsche Fußballmannschaft ist bei der WM ausgeschieden. Na und? Sie hat in einem unglücklichen Spiel gegen Japan verloren, weil sie ihre vielen Chancen nicht verwerten konnte. Gegen Spanien zeigte sie eine ansprechende Leistung und hätte am Schluss sogar noch gewinnen können. Gegen Costa Rica holte sie verdientermaßen drei Punkte. Spanien verlor gegen Japan und die Deutschen verpassten das Achtelfinale. Die Reaktionen waren unglaublich: Es wurde von Trainerentlassung gesprochen.

Katastrophe, Deutschlands Nationalmannschaft war schlecht. Die Spieler hatten einen ausdruckslosen Blick, schlichen durch die Katakomben, eine Entfremdung, schreibt Claudio Catuogno. Sollten sie lächeln, auf dem Spielfeld mit stolzgeschwellter Brust spazieren? Sogar Manuel Neuer, sicherlich nach wie vor ein Weltklassetorhüter, wurde hämisch kritisiert: Seine beste Szene hatte er, als er Musiala tröstete, so Philipp Selldorf. Was haben die Medien von der deutschen Mannschaft erwartet? Das Achtelfinale - um dann nach dem Scheitern zu schmähen? Eine Trainerentlassung? Solche Reaktionen habe ich nach dem meiner Meinung nach unglücklichen Scheitern nicht erwartet.

Heinz Kaiser, Fischach

In die Wüste schicken

Christof Kneer und Philipp Selldorf haben eine treffsichere Analyse erstellt. Es fehlt nur eine klare Rücktrittsforderung an Thomas Müller, İlkay Gündoğan, Manuel Neuer, Hansi Flick und Oliver Bierhoff. Aber auch DFB-Präsident Bernd Neuendorf gehört in die Wüste geschickt, wird sich aber vermutlich trösten lassen, wenn er durch den unsäglichen Gianni Infantino in den Fifa-Vorstand berufen würde. Nur so kann ein wirklicher Neubeginn funktionieren. Meint einer aus der Armee der Besserwisser.

Norbert Kemp, Regenstauf

Unangebracht

Claudio Catuogno hat Recht, wenn er Fußballturniere als Spiegel ihrer Zeit und die Ergebnisse der Nationalmannschaft als ein Symptom wertet. Anders als vor 60 Jahren gibt es andere Freizeitbeschäftigungen. Solche, bei denen sich Jugendliche nicht mal mehr vom Sessel erheben müssen. Sport bleibt häufig auf der Strecke, was man vielen ansieht. Städtische Freiflächen sind zugebaut, deshalb gibt es kaum noch Straßenfußball und damit weniger Talente als früher.

Die Nationalmannschaft ist seit 2015 keine 90-Minuten-Mannschaft mehr. Entspricht das aber nicht dem Zeitgeist, der überall propagierten Work-Life-Balance, dem Streben nach Teilzeitarbeit? Beim erfolgreichen FC Bayern findet man nicht allzu viele deutsche Fußballer in der Verteidigung. Wo soll für die Nationalmannschaft denn das Weltniveau aller Mannschaftsteile herkommen? Viele deutsche Weltklasseverteidiger hat der FCB nicht gefunden, sonst spielten sie dort.

Detlef Esslinger ist zuzustimmen, wenn er in Bezug auf Fußball und Politik fehlende Differenzierungen beklagt. "Generation Nix" ist nichts anderes als Schwarz-Weiß-Denken. Vielleicht sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass andere Fußballnationen aufgeholt, ja gleichgezogen haben. Gegen Spanien war es ein Unentschieden. Beide Teams haben gegen die japanische Mannschaft 1:2 verloren. Ist es so schwierig zu sagen: Die Japaner waren effizienter, also besser? Und die Spanier haben gegen Costa Rica unverschämt viele Tore geschossen, weil jene noch nicht im Turnier angekommen waren. Also Pech für das deutsche Team. Lauthals Sack und Asche zu fordern, ist bei aller Enttäuschung unangebracht.

Dr. Hans-Joachim Meissner, Hamburg

Kein "Weiter so"

Was ist nur aus dem deutschen Fußball geworden? Die deutsche Nationalmannschaft muss zum dritten Mal in Folge die frühe Heimreise antreten. Underdog Japan zieht mit einer disziplinierten, hart kämpfenden Truppe ins Achtelfinale ein. Doch beim DFB keine Spur von Übernahme der Verantwortung. Im Gegenteil: Flick bescheinigte seiner Mannschaft auch nach dem blamablen Ausscheiden hohe Qualität, verspricht eine Analyse. Dann kündigt er an, dass er weitermachen wolle, obwohl es ihm nicht gelungen war, in 18 Monaten eine turnierfähige Mannschaft aufzubauen. Flick sollte wissen, dass man von hoher Qualität nur sprechen kann, wenn man sie auf dem Platz sieht. Und das war selten der Fall.

Seit der EM 2016 wurden nur drei von zehn Spielen gewonnen. Der Mannschaft fehlt seit Jahren unbedingter Siegeswille, Gier und Motivation. Zu oft hat sie unter Flicks Regie Spiele gegen schlagbare Gegner aus der Hand gegeben. Die Spieler wurden nicht nur gepampert, Medien und Trainerstab versicherten ihr immer wieder hohe Qualität, worauf sich mancher zu sehr verließ. Dabei sind seit 2014 die Baustellen Abwehr und Sturmzentrum bekannt - ohne dass beim DFB darauf reagiert wurde. Fußballerischer Einheitsbrei statt Förderung individueller Klasse, so das Credo in den DFB-Leistungszentren.

Verantwortlich für den Niedergang des deutschen Fußballs ist neben Flick auch Manager Bierhoff. Er hat nach dem Titelgewinn 2014 mit seinem überzogenen Faible für Kommerz "Die Mannschaft" zu einem wenig authentischen, hohlen Werbekonstrukt gemacht, das die Nationalelf den Fans nachhaltig entfremdet hat. Die Umfragen zur Akzeptanz der Nationalmannschaft sprechen eine eindeutige Sprache. Viele Fans haben ihr den Rücken gekehrt. Bierhoff hat mittlerweile drei erfolglose Turniere zu verantworten. Deutschland ist von der Weltspitze meilenweit entfernt.

Der DFB glaubte in seiner Naivität, dass Kapitän Neuer eine nicht genehmigte Binde tragen könne, wohl wissend, dass von der Fifa seit Jahren bis ins Detail vorgeschrieben wird, welche Binde ein Mannschaftskapitän zu tragen hat. Die Fifa ließ den DFB kühl auflaufen. Die trotzige Mundhalteaktion der Mannschaft wirkte wie in einer Kita abgeguckt und hat sie zum Ziel von Hohn und Spott gemacht. Es ist bemerkenswert, wie unprofessionell der größte Sportverband der Welt in die WM in Katar ging, sich beim Gastgeber unbeliebt machte und in der Uefa weitgehend isoliert dasteht, weil sich die europäischen Verbände auf das Turnier konzentrierten, während sich der DFB in eine Binden-Diskussion steigerte, die vor dem Japan-Spiel dominierte und die Mannschaft Konzentration kostete.

Nach dem Misserfolg 2018 wurde von Löw und Bierhoff eine umfassende Analyse versprochen, nach Wochen kam nur wenig. Geändert hat sich in den vier Jahren bis zur WM in Katar nichts. Darum darf es jetzt kein "Weiter so" ohne personelle und strukturelle Konsequenzen geben, sonst ist der nächste Flop bei der EM 2024 programmiert.

Josef Geier, Eging am See

Chauvinistischer Hype

Mich wundert, dass Holger Gertz das generelle Konzept von Nationalmannschaften nicht infrage stellt. Zwar kritisiert er zu Recht den medialen Aufschrei über das frühe Ausscheiden der deutschen Mannschaft, der auch mir verlogen erscheint vor dem Hintergrund, dass bei so einem Turnier zusammengewürfelte Teams nach minimaler Vorbereitung Spiele auf hohem Niveau leisten sollen. Das ist unmöglich und produziert bestenfalls gute Einzelleistungen und ansonsten mediokren Fußball - Ballgeschiebe im Mittelfeld, Zufallstreffer.

Haben Nationalteamfans wirklich guten Fußball im Sinn? Wer guten Fußball liebt, mag keine Länderspiele. Gebt die Spieler zurück in ihre Klubs, in denen sie eher Stabilität und Kontinuität vorfinden. Der chauvinistisch aufgeheizte Hype um Nationalteams bei irregulären Arbeitsbedingungen - unmenschliche Überlastung durch verrückte Spielpläne, rasch wechselnde Aufgaben unter hohem Stressdruck, vernichtende Bewertungen im Falle von Misserfolg ... - für mich sind das die Kriterien von Missbrauch. Nicht junge Spieler sind das Problem, sondern ein von Gier gejagtes System des Profisports.

Gibt es eine Lösung? Vielleicht wenn ein Nationalteam für ein Jahr aufgestellt und trainiert wird wie ein Klubteam, mit "Leihgebühr" an die Klubs, um in dieser Zeit als Team zu reifen? Quasi Sabbatical für exzellente Kicker in einer eigenen Liga? Träumen darf man ja. Andernfalls: weiter so mit Rumpelfußball auf Regionalliga-Niveau, chauvinistischen Emotionen und missbräuchlicher Instrumentalisierung der Sportler für mehr als zweifelhafte Politik.

Prof. Dr. Willi Butollo, München

Radikaler Neuanfang nötig

Die recht milde Kritik ist absolut berechtigt - nur: Warum kommt sie erst jetzt? Die Misere des Teams und ihres Trainers wurde nicht erst in diesem Spiel - immerhin einem 4:2-Sieg - offenkundig. Wie konnte man sich von den Erfolgen gegen Mannschaften wie Armenien, Rumänien, Liechtenstein und Nordmazedonien so blenden lassen? Und wie konnte man übersehen, dass zum Beispiel Thomas Müller weit über seinen Zenit hinaus ist, seit Monaten im Verein und in der Nationalmannschaft nicht mehr überzeugt hat und seit der WM 2014 bei keinem Turnier mehr ein Tor geschossen hat?

Mich erinnert Flicks Festhalten an die Fehleinschätzung von Sepp Herberger bei der WM 1962, als er aus alter Verbundenheit an dem letzten verbliebenen Helden von Bern, Hans Schäfer, festhielt, der so schwach spielte, dass die deutsche Mannschaft praktisch nur zehn Spieler auf dem Platz hatte und folgerichtig im Viertelfinale gegen Jugoslawien ausschied. Das komplette Versagen des deutschen Teams verlangt einen radikalen Neuanfang. Dabei muss auch das Festhalten an Flick in Frage gestellt werden.

Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Heilmann, Berlin

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