Leserbrief:Poesie kaputter Infrastruktur

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Erst großspurig angekündigtes Bauprojekt, jetzt ein verlassenes Sendlinger Loch: Alramstraße, München. (Foto: Lorenz Mehrlich)

Ein pessimistischer, mahnender Leserstreifzug durch die Münchner Innenstadt, mit Hauptbahnhof-Dauerbaustelle, Hertie-Ruine und Sendlinger Loch.

"Wo München der Stillstand droht" vom 25./26. November:

Samstagvormittag, wir wollen nach Regensburg. Der Hauptbahnhof, ein wohl für die nächsten 20 Jahre still vor sich hin mäanderndes Baustellenlabyrinth. Zwischen den liegen gelassenen Steinbrüchen findet man die Gleise. Dort, wo die meisten Menschen stehen, erkennen jetzt auch wir: Der Zug fällt aus. Einfach so. Passiert schon mal.

Die meisten hier sind abgestumpfte Kenner der Materie. Mit nach innen gewandtem hysterischem Lächeln ertragen sie die in mehreren Politikergenerationen kaputtgesparte und herabgewirtschaftete Infrastruktur. Einer der letzten in dieser maroden Ministerreihe taucht neuerdings sogar wieder rotzfrech in Talkshows auf und erteilt ungewollt Ratschläge. Eigentlich glaubte man ihn geteert und gefedert irgendwo in einem verlassenen Schuppen im Oberland versteckt.

Wohin nun, bis vielleicht der nächste Zug kommt, der dann fahren könnte? Schauen wir doch mal beim Hertie rein! Ach so - den gibt's nicht ja mehr. Da draußen nur noch die ausgeweidete Innenstadt. Abgefieselt und ausgelutscht. Alles, was hier gelebt hat, ist jetzt tot wie der Ostfriedhof, aber dabei viel hässlicher. Investorenruinen, Trümmerbilder wie aus der Nachkriegszeit. Früher hatten solche Verwüstungen wenigstens treffende Namen: Attila, der Hunnensturm, Hurrikan Katrina. Heute werden hier die Obdachlosen vertrieben, das Einzige, wozu die Stadt in der Lage ist.

Am Heimweg dann vorbei am Sendlinger Loch. Vor Monaten hingen hier noch meterhohe Plakate in Gold und Schwarz: "14 Alram - hier entstehen Luxusapartments". Seitdem sumpft hier alles moosgrün vor sich hin. Ein inzwischen bewaldeter Zaun verdeckt notdürftig das abgrundtiefe Versagen. Und hier hört man dann die andere Reihe der Politikergarde: "Wir können nichts machen. Wir finden das auch schlimm. Uns sind die Hände gebunden."

Es ist schon bitter: Die einen würden gerne können, die anderen machen, was sie wollen. Der Investor badet derweil mit seinen 73 Millionen Goldtalern wie Dagobert Duck mit aufgestelltem Pürzelchen in seiner Grube und lässt den Markt das Weitere regeln. Wir können da nix machen. Wir machen Fotos. Das ganze Viertel hier ein Spekulationsobjekt. Die City kommt näher. Pflugscharen werden zu SUVs und Kramerläden zu Designerbüros.

Zuhause lassen wir die Mäntel an, die Heizung bleibt aus, die Schuldenbremse ist jetzt ein Gaspedal. Der Staat ist eine schwäbische Hausfrau, am Markt ist es ihr zu teuer. Wir brauchen wieder deutsche Tugenden. Wir wollen noch ein Lichtlein ins Fenster stellen, machen aber gleich wieder die Vorhänge zu.

Von draußen grinst vom vergilbten AfD-Plakat einer zu uns herein. Er wartet auf schlechte Zeiten. Es wird dunkel.

Stefan Hefele, München

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