Es sieht wild aus an den Straßenrändern von Bambergs Osttangente. Abgeblühte, struppige Stängel stehen und liegen kreuz und quer: ein Albtraum für Anhänger eines gepflegten Rasens - und ein Traum für Insekten und Pflanzen. Schon 1999, lange vor anderen Kommunen, lange vor vielen Landwirten, lange vor dem bayerischen Volksbegehren "Rettet die Bienen" hat die Stadt in Oberfranken damit begonnen, Biodiversität aktiv zu fördern. Nach und nach hat die Stadt die Hälfte ihres öffentlichen Grüns in blühende und manchmal zerzauste Areale umgewandelt. Mit beachtlichem Erfolg: Die Zahl der Arten ist von 320 auf 472 gestiegen. Wenn es nach dem Bamberger Naturschutzreferenten Jürgen Gerdes geht, müsste ganz Deutschland den gleichen Weg einschlagen: "Langweiligen Rasen können wir uns nicht mehr erlauben."
Diese Erkenntnis sickert so nach und nach ins öffentliche Bewusstsein. Glatt gemähte Rasenflächen, intensiv bewirtschaftete, stark gedüngte Flächen und eine zunehmende Besiedlung nehmen zahlreichen Arten den Lebensraum - das ist eine Binsenweisheit, doch eine, die dramatische Folgen haben wird: Fehlen bestäubende Insekten, werden beispielsweise Obstbäume nicht mehr befruchtet, um nur eine Konsequenz zu nennen. Einer Studie des Online-Wissenschaftsjournals Plos one aus dem Jahr 2017 zufolge ist in Deutschland die für Vögel oder Igel fressbare Biomasse an Insekten in den 27 Jahren zuvor um etwa 75 bis 80 Prozent gesunken. Das Bundesamt für Naturschutz stellte im März 2022 fest, dass mehr als ein Viertel der Insekten in ihrem Bestand gefährdet sind - darunter Wildbienen. Auf der Roten Liste der gefährdeten Arten 2021 stehen ein Drittel der Wirbeltiere, ein Drittel der wirbellosen Tiere, 31 Prozent der Pflanzen, 20 Prozent der Pilze. In Anbetracht dessen, dass viele Arten aufeinander angewiesen sind, könnte die Lage noch viel dramatischer sein als angenommen.
Jede Blühfläche ist eine Verbesserung
"Wir verstehen nicht annähernd, wie Wildbienen, Parasiten und Pflanzen zusammenhängen", sagt Matthias Wucherer, Biologe und Leiter des Netzwerks Blühende Landschaft (NBL), eines Zusammenschlusses zahlreicher Initiativen aus Imkerei, Naturschutz und Landwirtschaft, getragen von der Organisation Mellifera. Daher, so seine Einschätzung, bedeutet jede Blühfläche - gleich ob am Straßenrand oder in und an Äckern oder Wiesen - erst einmal eine Verbesserung. Vorausgesetzt, man verzichtet auf die billige Baumarkt-Blühmischung und achtet stattdessen bei der Wahl des Saatguts auf Boden, Standort und gebietsheimische Pflanzen.
In diesem Punkt hatten die Bamberger den Vorteil des Sandbodens. Der ist von Natur aus nährstoffarm, ein Boden, auf dem ohne viel Zutun schnell bunte Blumen wuchern. Naturschutzreferent Gerdes hat genau den Weg eingeschlagen, den auch NBL-Leiter Wucherer für richtig hält: Die Leute dort abholen, wo sie sind; erst einmal klein anfangen, die Mitarbeiter der kommunalen Bauhöfe schulen, langsam vortasten. In Bamberg waren es die Straßenränder, die keinen so recht interessierten. "Wir überlegten damals, wie wir Flächen biologisch aufwerten könnten, ohne auf großen Widerstand zu stoßen", erzählt Gerdes. Schritt für Schritt hat sich die Stadt vorgewagt: Zunächst ging es darum, auf zehn- bis 15-mal Mähen im Jahr zu verzichten, also wurde nur noch zweimal gemäht, zu Johanni im Juni, zu Michaeli im September, später nur noch im Herbst. Und jetzt beginnt Bamberg damit, die abgeblühten Pflanzen stehen zu lassen: als Winterquartier für viele Arten.
Welchen Erfolg die Maßnahmen haben, das zeigt die Kartierung. Sprich, es wird Jahr für Jahr überprüft, was da so alles wächst und fliegt. Rote-Liste-Arten wie die Violette Königskerze, die Ochsenzunge oder der Kicher-Tragant sind zurück. Die Insekten nehmen - zum Teil - den Lebensraum Straße an: Heuschrecken stört der Verkehr nicht, die Wildbienen kommen einigermaßen zurecht, die Schmetterlinge weniger.
Auch wenn also nicht alles funktioniert, so sind blühende Straßenränder laut NBL-Leiter Wucherer doch sinnvoll. "Würde ganz Deutschland einen zweieinhalb Meter breiten Blühstreifen entlang der Straßen pflegen, ergäbe das eine Fläche von der Größe des Saarlands." Und das wäre schon mal ein Mosaikstein.
Der nächste, wohl etwas größere Mosaikstein: die Landwirtschaft. "Wir kommen nicht umhin, auf Ackerflächen weitere mehrjährige Blühpflanzen zu säen, gleich ob als Streifen oder zusätzliche Fläche", betont Wucherer. Vor allem könne man Streifen durch die Landschaft ziehen und die Habitate so vernetzen. Manche Bundesländer seien da weiter, manche im Osten und im Norden der Republik hätten mehr Nachholbedarf; allerdings nicht alle: Sachsen-Anhalt etwa bietet in Sachen Agrarförderung mit standortangepassten Wildpflanzen ein gutes Beispiel.
Blühstreifen als "Einstiegsdroge"
Grundsätzlich setzt Wucherer auf positive Verstärkung: "Wir wollen der Landwirtschaft Beispiele bieten und sie unterstützen - mit Wissen, mit Saatgut, mit Begleitung." Einen wichtigen Schritt aber könne auch das Netzwerk den Landwirten nicht abnehmen, betont Wucherer: Sie müssten raus aus dem einfachen Weiter-so, denn alle Zahlen zeigten: "Es kann so nicht weitergehen."
Dazu sei die Landwirtschaft auch durchaus bereit, betont Eberhard Hartelt, Umweltbeauftragter des Deutschen Bauernverbands. "Die deutschen Bauern haben begriffen, dass sie bei der Biodiversität mit in der Verantwortung sind." Im Grünlandbereich fehlen noch geeignete Maßnahmen, räumt Hartelt ein. Wenn man alle Flächen zusammenrechne, seien bereits etwa 230 000 Kilometer Blühstreifen mit einer Breite von fünf Metern angelegt worden. Wenn es dann blüht und brummt, dann, ja dann seien die Kollegen zu begeistern. Hartelt nennt es die "Einstiegsdroge".
Wären da nicht die ein, zwei oder mehr Hemmnisse. Etwa, dass die Kosten für das Saatgut häufig den Ertrag der Hauptfläche übersteigen. Oder die Sache mit der Sanktionierung. "Ein Kollege rührte mal die Werbetrommel dafür, Spitzen und Ränder von Flächen als Blühstreifen anzulegen. Viele wollten das auch, hatten aber Angst vor möglichen Sanktionen." Denn die Bauern müssen die Größe der Blühfläche, für die sie Geld erhalten, genau angeben. Bei einer Abweichung müssen unter Umständen Zuschüsse zurückgezahlt werden. Dabei ließe sich so etwas mit GPS-Technik durchaus vermeiden.
Maßnahmen regional anpassen
Zudem betreten auch die Landwirte mit den Blühflächen fachliches Neuland. Hartelt erzählt, wie man in der Pfalz bald erkannte, dass es besser wäre, die Blühflächen mit dem Balkenmäher zu bearbeiten und das Mähgut zu entfernen, anstatt zu mulchen - was wieder mehr Nährstoffe in den Boden gebracht hätte. "Da haben wir gemeinsam mit dem Ministerium Maschinen angeschafft." Man lerne eben, idealerweise miteinander. "Ganz wichtig ist der Kontakt mit Naturschutzverbänden und der Austausch auf Augenhöhe, das gegenseitige Zuhören." Zudem müssten die Maßnahmen regional angepasst werden - denn was auf fränkischen Sandböden gedeiht, wird auf den tonhaltigen Böden der Westpfalz wohl verkümmern.
Mit einem aber wird man laut Hartelt die Landwirtschaft nicht für den Umbau hin zu mehr Biodiversität gewinnen: mit dem Vorwurf der Schuld. "Wir müssen die Fehlentwicklungen sehen, anerkennen und damit arbeiten", sagt er. "Was passiert ist, das ist die Folge des damaligen Zeitgeists - als noch Produktion ganz oben stand."