Weiterbildung für Skulpturenkünstler:Meditation mit Marmor

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Jahrelang hatten sich Almute Großmann-Naef und Alex Naef für ein internationales Steinbildhauerzentrum engagiert - im Mai wurde es eingeweiht. (Foto: Stephanie Schmidt)

Die Scuola di Scultura di Peccia im Tessin vermittelt Steinbildhauern vielfältige Kenntnisse. Warum sich die Schule auch für Kunstvermittler, Architekten oder zur beruflichen Neuorientierung eignet.

Von Stephanie Schmidt

"Das erdet." Dieser Gedanke geht der Besucherin als Erstes durch den Kopf, als sie sich dem Werkplatz der Scuola di Scultura di Peccia im Tessin nähert. Dort vereinen sich verschiedene Klopfgeräusche zu einem urigen Konzert: Konzentriert bearbeiten Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kurses "Steinbildhauen für Einsteiger" mit Spitzeisen und Stahlfäusteln ihre Skulpturen. Am Horizont sieht man den Pizzo Castello und die Punta della Rossa. Beide Gipfel sind mehr als 2800 Meter hoch, ihre Spitzen formen mit etwas Fantasie ein großes M - wie Marmor.

Die Gegend ist reich an einer hochwertigen Marmor-Art, dem Peccia-Marmor. Er ist benannt nach dem historischen Dorf Peccia, das sich in einem kleinen Seitental des Lavizzaratals befindet, welches wiederum vom Maggiatal abzweigt. Am Fuß dieser Berge, ein paar Kilometer nordwestlich der Steinbildhauerschule, baut das Unternehmen Cristallina AG seit 1946 den weißen Peccia-Marmor ab. Der Stein ist druckfest, lässt sich aber zugleich leicht bearbeiten und weist verschiedenartige Farbzeichnungen auf - auch deshalb schätzen Künstlerinnen und Künstler das Material.

Die Skulptur, die Tanja Urban aus Zürich an diesem abgelegenen Ort in den Bergen gestaltet, passt ohne Weiteres in den Kofferraum eines Autos. Die 56-Jährige möchte sich keinen Druck machen, ihr Werk während des Kurses fertigzustellen: "Ich kann auch zu Hause weiterarbeiten. Man braucht viel Geduld für die Arbeit mit dem Marmor." Sie macht den Kurs während eines Sabbaticals, um sich beruflich neu zu orientieren: "Bei der Arbeit mit dem Stein kommt man zur Ruhe, es ist wie Meditation. Und man lernt man viel über sich", bemerkt sie, während sie ihr Werk mustert. Meißel und Stahlhammer setze sie "spontan und intuitiv" ein. "Das wird etwas organisch Geformtes, mehr kann ich noch nicht sagen, das entwickelt sich." Neben ihrer Skulptur wird sie auch die Erfahrung mit heimnehmen, mit der Dimension Zeit anders umgehen zu können, als sie es bisher meist in ihrem Leben getan hat.

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Zum Kursangebot gehören auch Aktmodellieren oder Metallgießen

Das Programm der Scuola di Scultura di Peccia ist breit gefächert und für Amateure, die sich womöglich ein zweites berufliches Standbein schaffen wollen, ebenso geeignet wie für professionelle Bildhauer oder Kunstvermittler, die sich fortbilden wollen und dafür einen der ein- oder zweiwöchigen Kurse oder der mehrtägigen Workshops buchen. In 43 Kurswochen pro Jahr werden Seminare für zehn bis 15 Teilnehmer zu ganz unterschiedlichen Schwerpunkten angeboten: Themen sind unter anderem Kopf- oder Aktmodellieren, verschiedene Zeichentechniken, experimentelles Arbeiten mit Gips, Holzmodellieren oder Metallgießen. Zudem gibt es Kurse zum professionellen Transport von schweren Steinblöcken und zum Schmieden von Spitz- und Schlageisen sowie Seminare zur Kunstgeschichte oder zur Geologie des Peccia-Marmors.

Die meisten Steinbildhauerinnen und Steinbildhauer der Schule arbeiten mit dem Peccia-Marmor, der aus dem hinteren Maggiatal stammt, aber man kann auch mit Speckstein oder Alabaster experimentieren. (Foto: Scuola di Scultura)

Viel Zeit gönnen sich die Teilnehmer der berufsbegleitenden Weiterbildung "Steinbildhauen und dreidimensionales Gestalten", um ihren eigenen gestalterischen Weg zu finden. Sie dauert vier Jahre und vermittelt Fachkenntnisse zu den Kunstformen Skulptur und Plastik, zum dreidimensionalen Gestalten sowie zur Kunstgeschichte. Zur Zielgruppe gehören Lehrer, Kunstvermittler oder Architekten ebenso wie Kunststudenten, Menschen, die sich beruflich umorientieren wollen, oder solche, die einen steinverarbeitenden Beruf ausüben: Steinbildhauer, Steinmetze oder Steinhauer. Der historische Beruf des Steinhauers gilt allerdings mittlerweile als so gut wie ausgestorben.

Die individuelle Lebenssituation spielt in der Ausbildung eine wichtige Rolle

Mit Peccia-Marmor arbeiten die meisten Studierenden, Berufstätigen, Profi- und Hobbykünstler verschiedenen Alters, die sich in das kleine Dorf auf einer Höhe von 840 Metern zurückziehen. "Wir bieten aber auch die Möglichkeit, mit Speckstein oder Alabaster zu experimentierten", sagt die Kunstpädagogin und Kunsttherapeutin Almute Grossmann-Naef. Gemeinsam mit ihrem Mann Alex Naef leitet die 48-Jährige die Schule. Das Paar legt Wert auf einen "individualisierenden Unterricht". Dessen Konzept beschreibt es in dem von ihm herausgegebenen Buch "Marmor macht Schule": Die Teilnehmer sollen persönlich betreut werden, das heißt auch: Die eigene Lebenssituation soll im Gestaltungsprozess und in der Kommunikation eine Rolle spielen. Zudem ist es den beiden, die als Dozenten tätig sind, sehr wichtig, die Wahrnehmung, die sinnenhafte Erkenntnis der Künstlerinnen und Künstler zu schulen.

Peccia ist ein Ort der Stille mit internationaler Atmosphäre. "Wir arbeiten hier mit 25 Lehrern aus verschiedenen Ländern zusammen", sagt Großmann-Naef. In einem der Ateliers posiert gerade ein Modell mit Rubensfigur in der Mitte des Raums. Die Dozentin des Kurses für Aktzeichnen gibt den Teilnehmern auf Italienisch Tipps für ihre Skizzen. Auf dem Gelände der Bildhauerschule hört man gewöhnlich viele Sprachen, auch Russisch oder Japanisch. Wegen der Pandemie fehlten in dieser Saison allerdings einige Nationen.

Inzwischen bilden sich 400 künstlerisch Interessierte pro Jahr in Peccia weiter. 1987 gründete der Schweizer Alex Naef die Scuola di Scultura - seitdem ist das Angebot an offenen Kursen stetig gewachsen. Der Bildhauer und Kunstpädagoge studierte an verschiedenen Kunsthochschulen, unter anderem in Ottersberg in Bremen, wo er auch die aus Deutschland stammende Almute Großmann-Naef erstmals traf. Er hatte nicht das Ziel, Bildhauer zu werden, sondern pädagogisch im künstlerischen Bereich zu arbeiten. "Ich wollte keine Steine anfassen", erinnert sich der 67-Jährige, der aus einer Bildhauerfamilie stammt. Das klappte nicht. Der Marmor zieht ihn magisch an, nach dem Gespräch wird er sich sogleich ein paar großen Steinblöcken auf dem Gelände widmen. Sein Bildhauerfreund Rolf Flachsmann lockte Naef einst ins hintere Maggiatal, wo Flachsmann einen Vorläufer der Scuola gegründet hatte.

Dem Kunstpädagogen ist es wichtig, Gruppen von Schulkindern, die nach Peccia kommen, selbst zu betreuen und sie zu lehren, wie die künstlerische Arbeit mit Marmor mehr Freude macht. Das hat auch etwas mit dem Schlüsselerlebnis des inzwischen verstorbenen Freundes zu tun, das letztlich zur Gründung der Steinbildhauerschule geführt hatte. "Flachsmann sah damals in Peccia eine Gruppe von Schülern, wie sie lustlos und ohne Gefühl für das Material auf Steine einschlug. Da dachte er sich: So kann es nicht gehen! Den Unterricht muss man anders gestalten." Als Naef davon erzählt, klingt seine Stimme emotional, und man spürt, dass es ihm eine Herzensangelegenheit ist, auch Kinder und Jugendliche an die Bildhauerkunst heranzuführen.

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Das neue Steinbildhauerzentrum soll den Kulturdialog international beleben

Wenn er das futuristische Ausstellungs- und Veranstaltungsgebäude des neuen Centro Internazionale di Scultura (CIS) am Ortseingang von Peccia betrete, reibe er sich noch immer manchmal die Augen. "Von der Baracke, mit der die Geschichte der Schule begonnen hat, zum internationalen Steinbildhauerzentrum, das hätten wir uns damals nicht träumen lassen", sagt Naef. Vor mehr als zehn Jahren begannen er und seine Frau sich für dieses Vorhaben zu engagieren, das sie mittels einer Stiftung und dank Unterstützung zahlreicher privater und öffentlicher Geldgeber realisierten. Im Mai ist das CIS mit einer Schau eingeweiht worden, die mit 40 Tonnen Peccia-Marmor gestaltet wurde. Auch sehr große und schwere Steinblöcke lassen sich auf dem Gelände mithilfe eines Hebekrans bewegen, der ein Gewicht von bis zu 20 Tonnen aushält.

Zum CIS gehören auch fünf Künstlerateliers mit Panoramablick. In ihnen sollen von nun an jedes Jahr für sechs Monate fünf "Artists in Residence" aus aller Welt wirken. "Für dieses Jahr hatten wir 132 Bewerbungen aus 34 Ländern bekommen", berichtet Almute Großmann-Naef. Einer der diesjährigen Gastkünstler ist der Japaner Shinroku Shimokawa, der die Jury mit einem "Flussprojekt" überzeugte. "Eine Installation mit Steinen aus der Maggia, bei der ich vergleiche, wie der Fluss die Steine formt und was der Künstler, also ich, selbst draus macht", erläutert der 41-Jährige, der aus Tokio stammt und in Stuttgart lebt. Den Austausch mit den anderen Artists in Residence, den Schülern und Dozenten der Scuola di Scultura, aber auch mit Besuchern über sein Werk findet Shimokawa "sehr wertvoll", weil er ihn auch zu neuen Kunstprojekten inspiriere. Genau darum geht es den Initiatoren und Förderern des CIS: den internationalen Dialog über Kunst und Bildhauerei zu beflügeln.

Kurse kann man an der Scuola di Scultura in Peccia von April bis Oktober besuchen. Der Internet-Auftritt informiert detailliert über die Seminare und die berufsbegleitende Weiterbildung "Steinbildhauen und dreidimensionales Gestalten", die circa 15 000 Schweizer Franken kostet. Dort ist bereits das Kursangebot für 2022 hinterlegt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wohnen in Appartements auf dem Gelände oder in Tessinerhäusern im Dorf Peccia. Auf dem Portal des Centro Internazionale di Scultura kann man sich auch über dessen Artist-in-Residence-Programm informieren.

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