Medizin:Neue Leitlinie für Umgang mit trans Jugendlichen vorgestellt

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Die Trans-Pride-Flagge mit den trans Farben Weiß, Rosa und Hellblau ist eine Variante der Regenbogenflagge. (Foto: Allison Dinner/AFP)

Nach sieben Jahren des Ringens erscheint nun die deutschsprachige Empfehlung zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie. Die Beteiligten sprechen von einem Quantensprung.

Von Vera Schroeder

Wie betreut man Kinder und Jugendliche, die sich nicht in ihrem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht zu Hause fühlen, medizinisch bestmöglich? Diese Frage wird seit Jahren auch weit über die Fachkreise hinaus diskutiert. Nun soll eine neue Leitlinie mehr Behandlungssicherheit schaffen. In einem über sieben Jahre andauernden Prozess haben sich dafür Vertreterinnen und Vertreter von 27 Fachgesellschaften und zwei Betroffenenorganisationen auf Empfehlungen geeinigt. Derzeit liegt die Leitlinie den Fachgesellschaften zur Kommentierung vor, in den kommenden Wochen soll sie final verabschiedet werden.

Dabei weisen die Expertinnen und Experten zunächst auf die grundsätzlich herausfordernde ethische Aufgabe in der Kinder- und Jugendmedizin hin, zwischen der Schutz- und Fürsorgepflicht der Erwachsenen einerseits und dem Selbstbestimmungswunsch der Minderjährigen andererseits abzuwägen. "Wir müssen Kinder oder Jugendliche vor fehlerhaften Entscheidungen, vor Schaden an ihrem Körper und ihrer Seele schützen", sagte Claudia Wiesemann, Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Göttingen, bei der Vorstellung des Entwurfs in einem Presse-Briefing des Science Media Center. "Aber wir dürfen das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper nicht vergessen. Das beginnt nicht erst mit dem Alter von 18 Jahren."

Grundsätzlich versteht sich die Leitlinie, die für Deutschland, Österreich und die Schweiz erarbeitet wurde, als Empfehlung auf der Höhe des Kenntnisstands zum Thema Transidentität. So fühlt man sich laut Einleitungstext dem Abbau von Diskriminierung und der Entpathologisierung von betroffenen Personen verpflichtet. Der veraltete Begriff der "Geschlechtsidentitätsstörung" wird gemäß internationalen Richtlinien nicht mehr verwendet. Stattdessen verwendet man die Wörter "Geschlechtsinkongruenz" und "Geschlechtsdysphorie" für das behandlungsrelevante Leid, das aus der Inkongruenz entstehen kann.

Auch das Unterlassen der Behandlung kann Schaden anrichten

Die Experten betonen die Aufgabe, jeden Fall individuell, dabei grundsätzlich akzeptierend und gleichzeitig verlaufsoffen zu begleiten. Einer Behandlung - ob psychotherapeutisch oder medizinisch - müsse stets eine sorgfältige Diagnostik durch Fachexperten vorausgehen. Dabei dürfe es "nicht darum gehen, die geschlechtliche Identität verändern zu wollen", wie Sabine Maur, die Vize-Präsidentin der Bundespsychotherapeutenkammer, sagte. Es gelte, nach sorgfältiger Evaluation das Mögliche zu tun, damit sich die jungen Menschen langfristig in ihrem Körper und mit ihrer Sexualität wohlfühlen.

Manche psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen treten bei jungen Menschen mit einer Geschlechtsdysphorie gehäuft auf, das bestätigte Maur. Es handele sich jedoch um Begleiterkrankungen; pauschale Annahmen zu kausalen Zusammenhängen sollten vermieden werden: "Es gibt keine psychischen Erkrankungen, bei denen eine Geschlechtsdysphorie als Symptom auftritt."

Intensiv widmete sich das Gremium auch dem Thema Pubertätsblockade, also der Medikamentengabe zu Beginn der Pubertät, um mehr Zeit für Folgeentscheidungen zu gewinnen. Langzeitdaten zu Wirksamkeit und Sicherheit fehlen hier. Der Kinderarzt und Hormonexperte Achim Wüsthof vom Endokrinologikum Hamburg verwies jedoch auf die mittlerweile jahrzehntelange Erfahrung, die man mit diesen Medikamenten bei Kindern mit verfrühter Pubertät gesammelt habe.

Demnach sei nach wie vor unklar, ob die Behandlung die Knochendichte auch über die akute Behandlungsphase hinaus beeinflusse. Hinweise darauf, dass sich die Pubertätsblockade nachteilig auf die Hirnentwicklung auswirke, gebe es jedoch nicht. "Aber gleichzeitig haben wir sehr konkrete Hinweise, dass die Menschen sehr darunter leiden, wenn wir sie tatsächlich durch diese ungewollte Pubertät hindurch zwingen würden."

Man dürfe nie vergessen, dass es sich bei diesen Entscheidungsprozessen um junge Menschen in schweren Krisensituationen handele, betonte Dagmar Pauli, stellvertretende Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik Zürich. Auch das Unterlassen einer Behandlung könne Schaden anrichten. Eine Behandlung aus Sorge vor möglichen Nebenwirkungen prinzipiell zu verweigern, könne medizinisch und ethisch unangemessen sein, ergänzte die Ethikerin Claudia Wiesemann.

Im Vergleich zu internationalen Leitlinien ist die neue Empfehlung umfangreicher und konkreter, auch weil sie genauer auf die Versorgungssituationen in den deutschsprachigen Ländern eingehen kann. So würde am Beispiel England deutlich, wie unterschiedlich die Gegebenheiten seien, sagte Dagmar Pauli. Viele Dinge, die dort nun erst empfohlen werden, würden hierzulande schon lange umgesetzt.

Aber es gebe auch Unterschiede. Dass Pubertätsblocker, wie derzeit in England geplant, nur noch im Rahmen von Studien gegeben werden können, sei etwa in der Schweiz schon allein rechtlich nicht möglich, weil man Menschen dort nicht zu Studien zwingen dürfe. Die verbreitete Schlagzeile, in England würden Pubertätsblocker nun verboten werden, treffe allerdings nicht zu.

Die Leitlinie könnte für die Betroffenen eine echte Erleichterung werden

Es gebe durchaus Fälle, in denen junge Menschen nach angleichenden Maßnahmen doch wieder ins ursprüngliche körperliche Geschlecht zurückwechseln, so die Experten. Dies sei bei sorgfältiger Diagnose aber selten. Achim Wüsthof sagte, er habe in den vergangenen 15 Jahren 800 Jugendliche behandelt und dabei fünf Detransitionen erlebt.

Insgesamt sei die Datenlage zur Geschlechtsdysphorie bei Kindern und Jugendlichen "schwierig", so Wüsthof. Es gibt kein Register, die Fälle werden also nicht systematisch erfasst. Deshalb gebe es auch wenig Belastbares zu der Frage, wie es diesen Menschen im weiteren Leben ergeht. Medizinethisch sei es außerdem kaum möglich, bei Kindern und Jugendlichen in diesen Krisensituationen Studien zu erstellen, die den gängigen Evidenzkriterien entsprechen, bei denen also eine Gruppe behandelt würde und eine andere Gruppe nicht. Das betrifft so auch viele andere Bereiche der Kinder- und Jugendmedizin.

Die neue Behandlungsleitlinie stützt sich deshalb mehr auf Expertenkonsens und Verlaufsbeobachtungen als auf Evidenz aus der Studienlage, auch wenn alle Studien umfassend gesichtet worden seien, wie die Experten betonen. Aus diesem Grund wird die neue Leitlinie, die ursprünglich als Leitlinie der höchsten Qualitätsstufe S3 geplant war, nun als S2k-Leitlinie veröffentlicht. Das "k" steht für den strukturierten Prozess der Konsensfindung, in dem die Beteiligten miteinander gerungen haben. Dieser Konsens liegt in dem nun vorliegenden Papier bei den einzelnen Punkten zwischen 75 und 100 Prozent, was die Autoren und Autorinnen als hoch bewerten.

Man hoffe, erklärte Claudia Wiesemann, mit der Leitlinie nicht nur den Behandelnden mehr Sicherheit zu geben, sondern auch den betroffenen Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern. Momentan befänden sie sich oft in einer schwierigen Lage. Sie müssten lange suchen, bis sie professionelle Ansprechpartner finden, und gerieten nicht selten an wenig ausgebildete Personen, die selbst nicht wüssten, wohin sie weiter verweisen könnten. Wiesemann verbindet mit der Leitlinie die Hoffnung, dass sie "ein Quantensprung in der Versorgung" sein könne - und für die Betroffenen eine echte Erleichterung.

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