Deutschland ächzt unter einer Hitzewelle. Der Sonntag war der bislang heißeste Tag des Jahres. In einigen Regionen Deutschlands wurden mehr als 35 Grad Celsius gemessen, in Neckarwestheim sogar 37,2 Grad. Kleinkinder, Schwangere und insbesondere ältere Menschen geraten bei diesen Temperaturen schnell an ihre Belastungsgrenze, wenn sich ihre Körper nicht mehr ausreichend kühlen können. Wie gefährlich die immer heißeren Sommer inzwischen sind, zeigt jetzt eine Studie im Fachjournal Nature Medicine: Demnach forderte der vergangene Sommer 61 672 Hitzetote in Europa. Und damit annähernd so viel wie im Ausnahmejahr 2003.
In jenem Sommer vor 20 Jahren waren über 70 000 Europäerinnen und Europäer infolge der Hitze gestorben. Allein in Paris waren es Hunderte, weshalb die Stadt einen ehemaligen Großmarkt in eine Leichenhalle umfunktionieren musste.
"Wir haben solch eine Zunahme nicht erwartet."
Der Sommer 2003 war aber ein Ausnahmesommer, er war mehr als zwei Grad wärmer als es der Trend der Sommer zuvor hätte erwarten lassen. Daraus zogen die Regierungen Konsequenzen und setzten auf Hitzeprävention - von einer besseren Kommunikation der Gesundheitsrisiken bis zur Einrichtung von kühlenden Rückzugsräumen in öffentlichen Gebäuden, Trinkwasserspendern und der Begrünung von Städten. "Die Städte haben eine Menge getan", sagt der Mediziner Josep Maria Antó vom Barcelona-Institut für globale Gesundheit, einer der Autoren der Nature-Medicine-Studie. "Aber das war nicht genug."
Im Sommer 2022 seien wieder ähnlich viele Menschen in Europa infolge der Hitze gestorben trotz Anpassung. "Wir haben solch eine Zunahme nicht erwartet", sagt Antó. "Mit dem Klimawandel betreten wir unbekanntes Gebiet."
Europa ist von der Klimaerwärmung besonders betroffen, die Temperaturen sind im Vergleich zum globalen Durchschnitt um rund ein Grad Celsius höher geklettert. Und der Sommer 2022 war der heißeste in Europa, der je gemessen worden war. Allerdings kam er - im Gegensatz zum Sommer 2003 - alles andere als aus heiterem Himmel. Die Temperaturen seien nicht "außergewöhnlich" gewesen, schreiben die Autorinnen und Autoren. Heißt: Bezogen auf die Entwicklung der vorhergehenden Sommer hätte man sie durchaus erwarten können. Und trotzdem seien über 60 000 Menschen in 35 europäischen Ländern infolge der Hitze gestorben. 8173 allein in Deutschland.
Das haben die Autorinnen und Autoren statistisch berechnet, indem sie die auf Basis der vergangenen 20 Jahre zu erwartenden wöchentlichen Temperaturen und Sterblichkeitsraten mit den tatsächlichen Temperaturen und Sterblichkeitsraten verglichen. Damit konnten sie auch das Rätsel der Übersterblichkeit lösen, die im vergangenen Jahr festgestellt worden war. Besonders hohe Sterbezahlen hatte es in Deutschland im Juli gegeben. Nun ist klar, dass die Hitze dafür ausschlaggebend war. Der Nature-Medicine-Studie zufolge lassen sich fast zwei Drittel der hitzebedingten Todesfälle im Sommer 2022 auf nur eine besonders heiße Woche zurückführen - die vom 18. bis zum 24. Juli.
Die meisten hitzebedingten Toten insgesamt habe es in Italien, Spanien und Deutschland gegeben, was vor allem daran liegt, dass dort besonders viele Menschen leben. Die höchste hitzebedingte Sterberate verzeichnete hingegen Italien, Griechenland und Portugal - Deutschland taucht hier erst auf Platz 13 auf. Die Länder des Mittelmeerraums sehen die Autorinnen und Autoren entsprechend auch als besonders gefährdet an.
Medizin:Alle mögen's kühl
Wie extreme Hitze dem Körper zusetzt und wieso seine ausgefeilte Wärmeregulation dabei zu versagen droht.
Innerhalb der Bevölkerung einzelner Länder wiederum seien Frauen stärker gefährdet als Männer: Der Studie zufolge sei es zu 63 Prozent mehr hitzebedingten Todesfällen bei Frauen als bei Männern gekommen, wobei allerdings große Unterschiede in den Altersgruppen bestehen: So wiesen Männer höhere hitzebedingte Sterberaten bis 79 Jahre auf, aber Frauen höhere ab 80 Jahren - der Altersgruppe mit den allermeisten hitzebedingten Todesfällen. "Für diese Unterschiede haben wir leider keine guten Erklärungen", gibt Antó zu. Er geht von einer Kombination aus physiologischen und soziokulturellen Gründen aus. Aber nicht für alle Länder lagen dazu Daten vor - etwa für Deutschland fehlte die Aufschlüsselung für Frauen und Männer.
Die Präventionspläne haben sich aus Sicht von Antó und seinen Kolleginnen und Kollegen jedenfalls als "ungenügend" erwiesen, um das "hohe Ausmaß der hitzebedingten Sterblichkeit zu verhindern". Der Mediziner empfiehlt, die bisherigen Maßnahmen zu verschärfen und zu generalisieren: Ältere Menschen müssten während Hitzewellen zum Beispiel von ihren Hausarztpraxen täglich daran erinnert werden, genügend zu trinken und sich vor der Sonne zu schützen. "Wir brauchen eine intensivere Kommunikation", fordert Antó. "Kühle Rückzugsräume bringen nichts, wenn die Menschen nicht das Gefühl haben, dass sie aufgrund der Hitze sterben könnten."
Auch dieser Sommer wird den Prognosen zufolge in Europa wieder sehr heiß, womöglich heißer als vergangenes Jahr. "Uns wird jetzt bewusst, dass diese Hitzewellen unsere neue Normalität darstellen", sagt Antó. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, was uns in zukünftigen Sommern noch blühen könnte, hat er die lineare Entwicklung von Temperaturen und Sterblichkeit extrapoliert. Demnach seien ab dem Jahr 2030 im Schnitt 68 116 hitzebedingte Todesfälle in Europa zu erwarten, 94 363 ab dem Jahr 2040 und 120 610 ab dem Jahr 2050 - sollte es keine Anpassung geben.