Grippemittel:Sargnagel für Tamiflu

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Regierungen horteten große Mengen von Tamiflu: Hier ein Lager in Großbritannien (Foto: Getty Images)

Endlich sind die lange zurückgehaltenen Daten für Tamiflu zugänglich. Deren Analyse zeigt: Das millionenfach eingelagerte Grippemittel nutzt noch weniger als gedacht und ist sogar potenziell schädlich. Wissenschaftler bescheinigen den Verantwortlichen "Multiorganversagen".

Von Werner Bartens

Man muss die Ausdauer bewundern, mit der Tom Jefferson, Carl Heneghan und Peter Doshi durch die Welt von Medizin und Wissenschaft ziehen und - wie das Kind im Märchen "Des Kaisers neue Kleider" - immer wieder rufen: "Der hat ja gar nichts an!" Seit mehr als fünf Jahren weisen die Forscher mit deutlichen Worten und einer ebenso beeindruckenden wie anschwellenden Datenbasis auf einen der vielleicht größten und sicher kostspieligsten Medizinskandale hin.

Unermüdlich zeigen die Wissenschaftler aus Oxford und Harvard, dass die millionenfach von vielen Staaten eingelagerten Grippemittel Tamiflu und Relenza kaum einen Nutzen haben, dafür aber schwere Nebenwirkungen zeitigen können und längst nicht das halten, was ursprünglich von ihnen erwartet wurde.

Weil die Faktenlage so eindeutig ist und die Summe des vergeudeten Geldes so groß, haben sich das Cochrane-Netzwerk und das British Medical Journal zu einem ungewöhnlichen Schritt entschlossen: Zeitgleich mit dem 550 Seiten starken Cochrane-Überblicksartikel, der alle Belege für die fehlende Wirksamkeit von Tamiflu und Relenza enthält und am heutigen Donnerstag erscheint, richten sie einen eindringlichen Aufruf an Regierungen und Gesundheitspolitiker weltweit.

Sie appellieren an die Entscheidungsträger, nicht weiter auf die unnötigen Medikamente zu setzen, und stellen den Parlamentariern die schlichte Frage: "Würden Sie angesichts der aktuellen Erkenntnisse des Cochrane-Reviews noch einmal die gleichen Empfehlungen abgeben und große Tamiflu-Vorräte anlegen?"

Die dickleibige Analyse zeigt auf einer massiv erweiterten Datenbasis, was Forscher in früheren Auswertungen des Cochrane-Netzwerkes, aber auch im Lancet, dem Jama oder dem British Medical Journal seit 2009 immer wieder geschrieben hatten: Neuraminidasehemmer wie Tamiflu und Relenza sind nicht dazu geeignet, Grippe wirkungsvoll zu bekämpfen.

Die aktuelle Analyse ergab, dass Tamiflu im Vergleich zum Placebo die klinischen Symptome bei Erwachsenen zwar geringfügig verkürzen konnte - von 7 auf 6,3 Tage. Bei Kindern zeigte sich dieser minimale Effekt aber nicht.

Auch der immer wieder behauptete Schutz vor schweren Komplikationen ließ sich nicht nachweisen: Weder Lungenentzündung noch Bronchitis, Nebenhöhlenentzündungen oder Mittelohrentzündungen waren seltener, wenn die Patienten Tamiflu einnahmen. Das Medikament führte - anders als behauptet - auch nicht dazu, dass weniger Patienten ins Krankenhaus eingewiesen werden mussten.

Das Risiko für starke Übelkeit und Erbrechen stieg hingegen unter Tamiflu um fünf Prozent. Psychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie kamen bei einem Prozent der Patienten vor, die Tamiflu vorbeugend nahmen. In den Auswertungen fanden sich zudem Hinweise, dass Tamiflu die körpereigene Produktion von Antikörpern gegen Grippe unterdrückt und damit die Abwehr gegen jene Infektion schwächt, vor der das Mittel eigentlich schützen soll.

Nach dem Ausbruch der Schweinegrippe 2009 und der unklaren Bedrohungslage hatten viele Regierungen Oseltamivir (Tamiflu) von Roche oder Zanamivir (Relenza) von GlaxoSmithKline bestellt. In Deutschland wurde bereits 2007 und 2008 mit der Einlagerung begonnen, nachdem sich von 2006 an die Vogelgrippe von Asien kommend auch in Europa ausgebreitet hatte.

Allein die USA lagerten für 1,3 Milliarden Dollar Tamiflu und Relenza ein. Großbritannien investierte 424 Millionen Pfund in die Grippemittel. In Deutschland sind aufgrund der Länderhoheit in Gesundheitsfragen keine exakten Zahlen verfügbar, Schätzungen belaufen sich auf mindestens 500 Millionen Euro für die Medikamente. Weltweit sind es wohl mehr als 10 Milliarden Euro, die für die Bevorratung bezahlt wurden.

Als von 2009 an die Zweifel an der Wirksamkeit von Tamiflu und Co. wuchsen, offenbarte sich ein weiterer Skandal: Der behauptete Nutzen des Mittels, so minimal er auch seinerzeit bereits zu sein schien, war nur durch 40 Prozent der Studiendaten belegt. Hersteller Roche weigerte sich, die restlichen 60 Prozent der Analysen und Patientendaten an unabhängige Wissenschaftler herauszugeben. Was folgte, war eine Posse, bei der die Ausreden des Arzneimittelriesen immer absurder wurden. "Gerade selbst mit der Auswertung beschäftigt", "Sorge um die Datensicherheit", "Sie haben doch schon etliche Daten bekommen" - 2012 veröffentlichte das British Medical Journal Teile dieses peinlichen Briefwechsels, in dem Roche den Cochrane-Forschern Jefferson, Heneghan und Doshi immer wieder aufs Neue die Einsicht in alle Daten zu Tamiflu verwehrte.

Keine einzige Behörde hat Auskunft verlangt

"Letztes Jahr änderte Roche seine Haltung endlich und machte die Daten zugänglich", sagt Doshi heute. Die Auswertungen von 20 Studien zu Tamiflu und 26 zu Relenza mit insgesamt mehr als 24 000 Patienten zeigen einfach gesagt noch weniger Nutzen bei noch größerem Schaden als gedacht. Was den Forscher von der University of Maryland aber fassungslos macht, ist, dass nur seine Hartnäckigkeit und die seiner Kollegen zum Erfolg führte.

In den vier Jahren ihrer Bemühungen haben "weder die amerikanische Seuchenschutzbehörde noch die europäische, noch die WHO oder die europäische Arzneimittelagentur bei Roche interveniert und gesagt: Wir wollen den kompletten Datensatz, um selbst die Beweiskraft zu untersuchen". Und die diversen Regierungen wiederum verstecken sich hinter den untätigen Fachbehörden und zahlen Milliarden für die unnützen Pillen. Doshi fällt nur ein Begriff für dieses Desaster auf allen politischen und regulatorischen Ebenen ein: "Multiorganversagen".

Doshi und seine Kollegen sind weit davon entfernt zu triumphieren, weil ihr jahrelanges Engagement endlich zum Ziel führte. "Die Zulassung und Verwendung von Medikamenten kann nicht länger auf fehlenden oder verzerrten Informationen beruhen", sagen sie nüchtern. "Wir riskieren damit die Gesundheit und das wirtschaftliche Wohlergehen unserer Bevölkerung."

Der Cochrane-Review ist der erste zum Thema, der auf vollständigen Studienberichten und allen Daten der Arzneimittelbewertung beruht. "Man kann veröffentlichten Studien allein ebenso wenig trauen wie den Empfehlungen von Gesundheitspolitikern, die womöglich nicht unabhängig sind", mahnen Jefferson, Heneghan und Doshi an.

Die Ärztin Kathrin Sonnenholzner, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD im bayrischen Landtag und seit Jahren Kritikerin der Tamiflu-Bevorratung, kann angesichts der langwierigen Vorgeschichte nur den Kopf schütteln: "Wenn man es nicht wissenschaftlich betrachtet, reicht doch schon die Tatsache, dass Roche die Daten ewig nicht offengelegt hat, als Beleg dafür, dass das Zeug nichts bringt. Und aus wissenschaftlicher Sicht waren die Zweifel von Anfang an sehr groß."

Die Politikerin findet es bedenklich, den Menschen vorzugaukeln, dass es ein wirksames Mittel gegen Grippe gäbe, weil sie sich dann im tatsächlichen Pandemiefall nicht vorsichtig genug verhalten und etwa die Handhygiene vernachlässigen würden. "Manche Politikerkollegen glauben, den Leuten etwas anbieten zu müssen", hat Sonnenholzner immer wieder erlebt. "Die haben nicht den Mut, zu sagen: Wir haben nichts, es gibt keine Therapie."

Für Fiona Godlee, Herausgeberin des British Medical Journal, ist der aktuelle Überblicksartikel "das Ergebnis eines jahrelangen Kampfes, um an die bisher unveröffentlichten Studiendaten zu kommen". Sie fordert die Politiker auf, dass "künftige Entscheidungen, in einem so großen Umfang Medikamente zu kaufen, nur auf der Basis der vollständigen Studienlage getroffen werden".

Und die Politiker selbst? Haben sich in den Bundesländern trotz ihrer Hoheit in Gesundheitsfragen bisher immer hinter den Empfehlungen des Bundes versteckt, der sich wiederum auf eine - wissenschaftlich nicht haltbare - Empfehlung der WHO oder des Robert-Koch-Institutes gestützt hat, wonach Tamiflu ein sinnvolles Mittel gegen Grippe sei.

Fiona Godlee will, dass sich Gesundheitsbehörden wie Pharmafirmen verpflichten, alle Daten zur Wirkung und Sicherheit von Medikamenten zu veröffentlichen, auch wenn sie dazu 20 Jahre alte Unterlagen durchforsten müssen. "Es kann doch nicht sein, dass wir in Panik vor einer möglichen Pandemie eine Entscheidung wieder so übers Knie brechen", sagt sie. "Wir können uns das außerdem nicht leisten." Kathrin Sonnenholzner, die auch Vorsitzende des gesundheitspolitischen Ausschusses im bayrischen Landtag ist, drückt ihre Einschätzung noch klarer aus: "Ich sehe keinen Anlass, auch nur einen Cent für dieses Zeug auszugeben."

Vom bayrischen Gesundheitsministerium kommt keine eigene Einschätzung, sondern der - erwartete - Verweis auf die Empfehlungen anderer Behörden. Allein der Freistaat hat 3,8 Millionen Therapieeinheiten antiviraler Arzneimittel für 54,8 Millionen Euro beschafft. Auf Anfrage teilt das Ministerium mit: "Nach Auffassung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sind im drei- bis viermonatigen Zeitraum zwischen dem Auftreten eines Influenza-Pandemie-Virus und der Verfügbarkeit eines geeigneten Impfstoffs antivirale Arzneimittel die einzige Möglichkeit einer Arzneimitteltherapie. Zudem hat das Robert Koch-Institut (RKI) eine staatliche Bevorratung für 20 Prozent der Bevölkerung empfohlen, um eine möglicherweise fehlende Verfügbarkeit antiviraler Arzneimittel auf dem Markt im Pandemiefall abzufangen."

Die Beweislage gegen die Grippemittel ist erdrückend, doch nichts scheint sich zu ändern. Manchmal hilft vielleicht nur noch, immer wieder "Der hat ja gar nichts an" in die Welt zu schreien.

© SZ vom 10.04.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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