Genanalysen von Säuglingen:Jedes zehnte Neugeborene trägt genetische Risiken

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In Bosten untersuchen Mediziner bereits seit 2013 Neugeborene systematisch auf genetische Risiken. (Foto: imago stock&people/imago stock&people)

Werden genetische Risiken für bestimmte Krankheiten direkt nach der Geburt erfasst, lässt sich früher gegensteuern - so die Idee hinter dem Projekt "BabySeq". Doch nicht jedes genetische Risiko führt tatsächlich zu Problemen.

Bei der Analyse des kompletten Erbguts von Neugeborenen haben amerikanische Mediziner bei rund zehn Prozent der untersuchten Babys Genvarianten entdeckt, die zu Krankheiten führen können. Dies biete die Möglichkeit der frühzeitigen Behandlung oder Überwachung, schreibt die Gruppe um Robert Green von der Harvard Medical School in Boston im Fachmagazin The American Journal of Human Genetics. Zudem könne das Ergebnis der Gensequenzierung auch Rückschlüsse auf potenzielle Gesundheitsprobleme der Eltern liefern.

Das Projekt "BabySeq", bei dem an Bostoner Kliniken das Erbgut von kranken und gesunden Neugeborenen entschlüsselt und auf bestimmte Genvarianten hin untersucht wird, läuft seit zehn Jahren. Die beteiligten Wissenschaftler haben schon eine Reihe von Fachartikeln darüber veröffentlicht. In der aktuellen Studie untersuchten Green und Kollegen, was auf die Analyseergebnisse folgte. "Durch das Screening scheinbar gesunder Neugeborener wurden ganze Familien zum ersten Mal darauf aufmerksam gemacht, dass gefährliche, aber behandelbare genetische Varianten vorhanden waren", erläuterte Green.

Von den 159 Säuglingen, deren Genom im Rahmen des Projekts zuerst sequenziert wurde, waren 127 augenscheinlich gesund, die übrigen lagen zur Behandlung auf der Intensivstation. Mit dem Einverständnis der Eltern wurden sie auf 954 Gene hin untersucht, bei denen Varianten oder Mutationen häufig eine Erkrankung schon in der Kindheit oder Jugend nach sich ziehen. Zusätzlich erfassten die Forscher einige Genveränderungen, die ein erhöhtes Risiko einer Erkrankung im Erwachsenenalter bedeuten. Im Ergebnis fanden die Forscher bei 17 Neugeborenen (10,7 Prozent) Genvarianten, die das Krankheitsrisiko erhöhen oder auf bereits vorhandene Anomalien hinweisen.

In mehreren Fällen fanden die Forscher auch Risiken bei den Eltern

Zu solchen Anomalien gehört eine Aortenklappenstenose - eine Einengung des Ausflusstraktes der linken Herzkammer und eine potenziell gefährliche Herzkrankheit. Nach der Genanalyse wurde eine solche Einengung, die aber nicht sehr ausgeprägt war, bei einem Säugling entdeckt. In der Folge wurden das Kind und der Vater, bei dem das Gen dann ebenfalls detektiert wurde, herzmedizinisch überwacht.

Insgesamt führte das Screening bei acht Neugeborenen zur Entdeckung von genetischen Risiken bei deren Familienmitgliedern. In drei Fällen reagierten Mütter auf das Analyseergebnis, indem sie sich chirurgischen Eingriffen unterzogen, die das Erkrankungsrisiko verringern sollen. In zwei Fällen ging es dabei um eine Genvariante, die das Risiko für Brust- und Eierstockkrebs erhöht, in einem Fall um eine erbliche Darmkrebsform. Ob die Frauen tatsächlich irgendwann erkrankt wären, lässt sich aus den Ergebnissen allerdings nicht ableiten.

Bei den kranken Kindern entdeckten die Mediziner auch potenziell gefährliche Genvarianten, die nichts mit deren intensivmedizinischer Behandlung zu tun hatten. "Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass die Durchführung einer gründlichen genetischen Sequenzierung von Neugeborenen das Potenzial hat, die Gesundheitsergebnisse für Säuglinge und ihre Familien erheblich zu verbessern", erklärte Alan Beggs vom Boston Children's Hospital, ein Mitautor der Studie.

In Deutschland gibt es solche Analysen bislang nur bei relevanten Erkrankungen

"Aus ethischer Sicht sind Genom-Screenings, die zu einer frühzeitigen Entdeckung von Erbkrankheiten oder Krankheitsrisiken führen, grundsätzlich zu begrüßen", sagte der Theologe und Ethiker Peter Dabrock von der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg zu den Ergebnissen. Allerdings sieht er auch Risiken: So könnten solche Screenings von Interessen der Pharmaindustrie getrieben sein und hohe Kosten im Gesundheitswesen verursachen. Auch sieht er die Gefahr des Datenmissbrauchs, wenn Arbeitgeber oder Versicherungen von Krankheitsrisiken erfahren. Sehr wichtig ist für ihn zudem, dass mit den Betroffenen professionelle, intensive Gespräche über ihre genetischen Risiken geführt werden.

Das Studienergebnis ist für den Humangenetiker Christian Schaaf vom Universitätsklinikum Heidelberg keine Überraschung: "Wir alle müssen uns daran gewöhnen, dass ein 'perfekter genetischer Code' nicht existiert und jeder von uns zahlreiche genetische Varianten trägt, welche Krankheitsrisiken mit sich bringen." Es gelte zu bedenken, dass nicht jede Risikovariante zwangsläufig zum Ausbruch einer Erkrankung führe. Derzeit wird in Deutschland an Neugeborenen nur bei klinisch relevanten Erkrankungen eine Genomuntersuchung vorgenommen. Schaaf verweist auf eine laufende Heidelberger Studie, die die ethischen, rechtlichen und psychologischen Implikationen eines generellen genomischen Neugeborenen-Screenings erkundet.

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