Youtube und Facebook:"Sie verkaufen unsere Aufmerksamkeit an jeden, der dafür bezahlt"

Zeynep Tufekci

Die Soziologin Zeynep Tufekci geht hart mit dem Silicon Valley ins Gericht.

(Foto: James Gilberd T/A Photospace; oh)

Vom Joggen zum Ultramarathon, von Trump zu rassistischen Lügen: Die Soziologin Zeynep Tufekci erklärt, wie Youtube seine Nutzer in immer extremere Gedankenwelten treibt - und was das mit Las Vegas zu tun hat.

Interview von Jannis Brühl

Zeynep Tufekci bezeichnet sich als "Technosoziologin". Sie lehrt an der University of North Carolina at Chapel Hill und ist eine der lautesten und profiliertesten Kritikerinnen der sozialen Medien. Über deren Potenzial für Aufstände hat sie ein Buch geschrieben (Twitter and Tear Gas), und warnte schon nach dem US-Wahlkampf 2012 vor dem Schaden, den die Netzwerke der Tech-Konzerne an der demokratischen Öffentlichkeit verursachen.

SZ: Frau Tufekci, Sie sind eine der größten Kritikerinnen der sozialen Medien - und äußern diese Kritik regelmäßig selbst auf Twitter, wo Ihnen 300 000 Menschen folgen und mitdiskutieren. Wieso ist unser Verhältnis zu sozialen Medien so widersprüchlich?

Zeynep Tufekci: Einerseits verbinden uns soziale Medien miteinander und mit unseren Heimatorten sowie mit Nachrichten und Informationen. Das Problem ist aber, dass es zweifellos zu viele Informationen geworden sind und sie nicht zu unserem Besten gefiltert und priorisiert werden. Das Geschäftsmodell dieses Informationsclubs ist, uns Werbeanzeigen zu zeigen. Die großartige Möglichkeit, uns zu vernetzen, wird dadurch gemindert, dass die Social-Media-Konzerne Geld verdienen, indem sie uns überwachen und gigantische Datenmengen über uns sammeln. Sie verkaufen unsere Aufmerksamkeit an jeden, der dafür bezahlt.

Wer bestimmt, was wir sehen?

Vor allem auf Facebook priorisiert der Algorithmus die Beiträge so, dass wir länger in der App bleiben. Das bedeutet oft, dass Dinge bevorzugt werden, die empörend sind, manchmal auch Dinge, die süß sind. Und nicht die Dinge, die wir bewusst wählen würden, wenn uns jemand fragen würde: Wovon willst du mehr sehen? Man könnte dann ja sagen: Nur Beiträge meiner besten Freunde - oder nur vernünftige, richtige Beiträge und nur sachkundige Ansichten.

Sie haben sich besonders mit Youtube beschäftigt, nennen die Webseite "den Großen Radikalisierer". Was macht die Seite denn so außergewöhnlich?

Man muss unterscheiden: In seiner Suchmaschine hat Google kein Interesse, mich möglichst lange auf der Seite zu halten. Vergleichen Sie das mit Youtube, das ebenfalls Google gehört: Dessen Geschäftsmodell ist, mich so lange wie möglich zu fesseln. Auf der rechten Seite des Bildschirms sehe ich die Liste der Empfehlungen. Dort werden mir automatisch weitere Videos vorgeschlagen, wieder und wieder. Zudem setzt Youtube auf Autoplay - das nächste Video spielt automatisch ab.

Aber wann werden solche technischen Features zum politischen Problem?

Im Präsidentschaftswahlkampf 2016 habe ich auf Youtube nach Videos von Wahlkampfauftritten Donald Trumps gesucht. Das Netzwerk schlug mir dann automatisch Videos von white supremacists vor, sehr rassistisches Zeug, auch frauenfeindlich. Ich habe dasselbe mit Hillary Clinton und Bernie Sanders probiert. Was ich fand, war nicht viel besser. Ich sah schreckliche Verschwörungstheorien von links, zum Beispiel über den 11. September. Creepy! Die Maschine gab mir nicht mehr von dem, was ich schon angesehen hatte. Sie gab mir immer extremere Versionen davon.

Also ist das nicht nur ein Problem auf der politischen Rechten?

Nein. Als ich nach "Joggen" suchte, hat Youtube mir Videos zum Ultramarathon empfohlen. Als ich "Vegetarismus" suchte, bekam ich Videos zu Veganismus. Ich glaube, der Algorithmus hat herausgefunden, dass es fesselnder ist, Nutzer zu immer extremeren Videos zu pushen. Das ist eine Schwäche der Menschen: Extremeres zu wollen, ohne es zu wissen.

War denn die alte Informationswelt ohne soziale Medien besser?

Ich will nicht zurück zum alten System mit ein paar Zeitungen und Fernsehsendern, die allein bestimmen, was gesehen und gelesen wird. Die Möglichkeit der Zensur war damals ein Problem. Und im Vorlauf des Irakkrieges hat die New York Times - die Zeitung, für die ich momentan schreibe, mit ihren exzellenten Investigativjournalisten - völlig falsch berichtet. Diese bewusst gestreuten Gerüchte über Massenvernichtungswaffen, die der Irak angeblich besaß, und die sich als falsch herausstellten.

Klingt nach ebenjener Desinformation, die wir heute auf Facebook beklagen ...

Der Unterschied ist: Wenn die New York Times falsch berichtet, dann versagt sie. Sie tut nicht das, was sie eigentlich tun sollte - uns mit relevanten und korrekten Informationen zu versorgen. Als Facebook dagegen im Wahlkampf mithalf, Desinformation zu verbreiten, hat es damit nur seine Mission erfüllt: Es zeigt den Leuten, was sie sehen wollen, und kassiert dafür Geld. Das gilt etwa für den erfundenen Artikel, dem zufolge Clinton mitgeholfen habe, einen FBI-Agenten zu töten. Das haben Millionen Menschen gesehen.

Dennoch sind die sozialen Medien demokratisch: Wirklich jeder kann nun eine Stimme in der Öffentlichkeit haben. Viele Debatten, die sonst untergegangen wären, wurden dort von Bürgern angestoßen.

Ich sage auch: Das hat einen Wert - aber der wiegt nicht das auf, was ich Verschmutzung der öffentlichen Sphäre nennen. Wenn ein Unternehmen etwas Nützliches produziert, erlaubt man ihm ja auch nicht, unsere Flüsse zu verdrecken. Man sagt: Ihr könnt kein Blei in unser Wasser mischen, ihr könnt kein Blei in unsere Wandfarbe mischen. Facebook und Youtube verschmutzen die öffentliche Sphäre und lagern die Kosten an die Gesellschaft aus. Sie könnten mehr Menschen für die Reinigung einstellen, aber das macht sie weniger profitabel. Das ist der Punkt, an dem man ansetzen muss. Wir kommen nicht zurück in die alte Welt, aber wir können Standards setzen, die sagen: Ihr könnt die Gesellschaft nicht so verschmutzen und uns die Kosten tragen lassen.

Welche konkreten Schritte müssten die Plattformen unternehmen?

Sie sollten ein neues Geschäftsmodell erfinden, das nicht funktioniert wie Einarmige Banditen im Kasino, die einen so lange wie möglich fesseln sollen. Das Modell ist okay für Las Vegas, aber nicht für die Öffentlichkeit. Es muss auch staatliche Regulierung ins Spiel kommen, damit sie gezwungen werden, neu zu denken.

Wie kann eine bessere Social-Media-Landschaft aussehen?

Es gibt zwei Möglichkeiten: Wir könnten echte Kunden werden. Ich persönlich würde eine angemessene Summe zahlen, um so einen Dienst zu nutzen, statt Anzeigen sehen zu müssen. Oder wir bekommen Plattformen, die dem öffentlichen Interesse verpflichtet sind und kein Geld damit verdienen, uns zu überwachen. Sie könnten zum Beispiel steuerfinanziert sein.

Aber würde ein staatliches soziales Netzwerk nicht unter dem Verdacht der Spionage und Zensur stehen?

Es darf kein Wahrheitsministerium der Regierung geben. Es gibt aber ja öffentlich-rechtliche Modelle, die Unabhängigkeit sicherstellen, wie die BBC oder der Rundfunk in Deutschland. Der entstand ja nach dem Krieg aus der Überzeugung, dass die öffentliche Sphäre zu wichtig ist, um sie Demagogen zu überlassen. Diese Erinnerung verblasst allerdings in Europa.

Gibt es technische Lösungen, die die negativen Auswirkungen der genannten Features eindämmen können?

Ironischerweise gibt es viel weniger Innovationen in dieser Branche als viele denken. Die Unternehmen machen viel Geld und sammeln mit ihrer Überwachung immer mehr Daten. Dagegen setzen Technologien Staub an, die Privatsphäre schützen, etwa Antiüberwachungstechnik. Die Konzerne investieren nicht weiter in sie, sie haben keinen Anreiz, in diesem Bereich innovativ zu sein. Entwickler bei Google und Facebook sollten das mehr erforschen, auch die Fachleute aus Europa sind hier gefragt.

Was können die Nutzer selbst tun?

Es ist schwierig. Vor Kurzem war hier in North und South Carolina ein schwerer Hurrikan. Die Schulverwaltung sagte: Folgt uns bei Twitter und Facebook, damit wir euch auf dem Laufenden halten.

Also haben die kommerziellen Anbieter die Infrastruktur für Notfallkommunikation gestellt, und nicht der Staat?

Genau, und das ist die Realität: Wenn Sie keine sozialen Medien nutzen, sind Sie aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen. Die Dienste einfach zu boykottieren, wird nicht helfen. Denn jeder andere benutzt sie ja noch. Man sollte eher versuchen, die eigene Zeit und Aufmerksamkeit zu kontrollieren. Aber auch das ist keine Lösung, denn die Industrie verpestet ja die gesamte öffentliche Sphäre. Erstens wird jeder in die Situation geraten, in der sich eine Information, die er braucht, in sozialen Medien findet. Und zweitens werden die Menschen, die auf den sozialen Medien Beiträge sehen, über den Wahlausgang mitentscheiden.

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