In seinem Werk "Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft" aus dem Jahr 1977 schrieb der Computerpionier Joseph Weizenbaum: "Der Programmierer ist der Schöpfer von Universen, deren alleiniger Gesetzgeber ist er selbst." Ein Programm zu schreiben bedeute, einer Welt Gesetze zu geben. Der Rechtsprofessor Lawrence Lessig entwickelte diesen Gedanken weiter und formulierte in seinem Essay "Code Is Law" aus dem Jahr 2000, dass Code zum Gesetz werde. Damit meinte er, dass auch im Cyberspace Normen herrschen, dass der Programmcode gesellschaftliche Welten strukturiert.
Mit dem Abstand von über einem Jahrzehnt kann man Lessigs Sentenz durchaus wörtlich nehmen. Internetkonzerne wie Facebook und Google determinieren mit ihren Algorithmen autoritär die Grenzen des Sagbaren und Schicklichen. Autobauer - dazu gehören inzwischen auch Apple und Google - programmieren in ihre autonomen Fahrzeuge Codes ein, die entscheiden, ob das Fahrzeug bei einem Aufprall in die Fußgängergruppe nach links oder in den Radfahrer nach rechts zieht. Damit statuieren sie einen übergesetzlichen Notstand. Und Tech-Konzerne wie Cisco liefern Software für smarte Städte, die mit der Steuerung der Ampelschaltung automatisierte Verwaltungsakte vollziehen.
Wertentscheidungen werden an Algorithmen delegiert
Politik, verstanden nach David Easton als Wertzuteilung, wird immer programmierter. Wer die Macht der Tech-Konzerne kritisiert, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, hier würde ein Schreckgespenst konstruiert oder eine dunkle Macht beschworen, die real nicht existiert. Google und Co. hätten zwar Macht, so lautet die Abwiegelung der Organisation Algorithm Watch, würden diese aber nicht nutzen, und wenn, dann nur zum Wohl der Nutzer. Google, der gute Hegemon?
Was bei dieser beschwichtigenden Auseinandersetzung mit dem Geschäftsgebaren der Tech-Giganten außer Acht gelassen wird, ist die Tatsache, dass mit der Delegation von Wertentscheidungen an Algorithmen einige Kompetenzen des Staats aus der Hand gegeben werden. Das Hate-Speech-Gesetz, das Justizminister Heiko Maas auf den Weg gebracht hat und das soziale Netzwerkbetreiber dazu zwingt, offenkundig strafbare Inhalte innerhalb von 24 Stunden zu löschen, überantwortet die Definition dessen, was Hass ist, privaten Konzernen, weshalb die Befürchtung groß ist, dass Facebook kosten- und risikominimierend den Maßstab äußerst streng anlegt und Kommentare im Grenzbereich zensiert, um möglichen Strafen zu entgehen.
Die Verteidigung, die Facebook der Regierung entgegenhält, ist ironischerweise auf Linie seiner größten Kritiker. "Der Rechtsstaat darf die eigenen Versäumnisse und die Verantwortung dafür nicht auf private Unternehmen abwälzen. Die Verhinderung und Bekämpfung von Hate-Speech und Falschmeldungen ist eine öffentliche Aufgabe, der sich der Staat nicht entziehen darf." Dass Konzerne wie Facebook diese öffentliche Aufgabe nun wahrnehmen und entgegnen, sie seien dafür eigentlich nicht zuständig, ist teils richtig. Denn aus demokratietheoretischer Sicht ist diese Delegation problematisch.
Nach der Legitimationstheorie muss jedes hoheitliche Handeln an parlamentarische Strukturen oder den Souverän rückgekoppelt sein. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Wenn aber nichtgewählte Akteure eine Richterrolle zugewiesen bekommen und so zur privaten Meinungspolizei mutieren, ist die Legitimationskette durchbrochen. Man kann deren Entscheidungen weder nachvollziehen noch anfechten. Algorithmen sind eine Black Box, ein Arkanum, in dem Herrschaft unter Ausschluss der Öffentlichkeit organisiert wird.
Die algorithmische Macht lässt sich nicht in einem "Raum der Rechtfertigungen" (Rainer Forst) verorten - sie diffundiert in den Serverfarmen privater Betreiber. Warum Facebook einen Kommentar löscht, steht unter keinem Begründungszwang. Der US-Rechtswissenschaftler Frank Pasquale, Autor des Buchs "The Black Box Society", vergleicht diese opaken Verfahren mit computerisierten Star Chambers. Die Urteile dieser Gerichtshöfe, die König Eduard II. im 14. Jahrhundert in England einsetzte, waren unanfechtbar, die Verhandlungen geheim.
Die Sammelwut der Internetkonzerne, die immer mehr über das Verhalten der Bürger erfahren, verdichtet sich zu einer Art staatlich geführtem Register. Google und Co. werden jedoch nicht etwa staatsähnlich dadurch, dass sie ein Staatsgebiet oder Staatsvolk aufweisen, sondern zumindest mittelbar Staatsgewalt ausüben, indem sie Herrschaftswissen aggregieren und per Code rechtsverbindliche Normen für Milliarden Nutzer statuieren.