Zeugnisse:Schule ohne Noten ist menschlich und fair

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Hessens Schulen sollen künftig frei entscheiden dürfen, ob sie auf Notenzeugnisse verzichten. (Foto: dpa)

Hessens Lehrkräfte dürfen künftig Noten- durch Wortzeugnisse ersetzen. Eine kluge Entscheidung, wenngleich sie an den Schulen wohl wenig verändern wird.

Kommentar von Matthias Kohlmaier

Ob sich Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier an eine seiner Aussagen zu Schulnoten im vorletzten Landtagswahlkampf erinnert? Nicht zulassen werde er deren Abschaffung, durch die Menschen in eine Einheitsform gepresst würden. "Das ist nicht nur inhuman, das ist auch falsch und wir werden alles tun, unsere Kinder vor dieser Irrfahrt zu bewahren." Kurze Zeit später kam die erste schwarz-grüne Koalition Hessens zustande. Und weil Bouffiers schwächelnde CDU auch nach der Wahl 2018 mit den erstarkten Grünen regiert, hat der Ministerpräsident unter anderem in puncto Schulnoten seine Meinung offenbar überdacht.

Künftig soll es Hessens Schulen freigestellt sein, ob sie die Leistungen von Schülerinnen und Schülern mit Ziffern von 1 bis 6 beurteilen oder die Zensuren durch schriftliche Bewertungen ersetzen. Dieser Schritt ist mitnichten innovativ, deutschlandweit gibt es an den meisten Grundschulen vor Klasse drei kaum noch Noten und auch viele weiterführende Schulen arbeiten schon so. Sinnvoll ist die von den Grünen forcierte Entscheidung des hessischen CDU-Kultusministers R. Alexander Lorz dennoch.

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Denn Schulnoten mögen zwar einfach zu erheben sein, ihren zentralen Zweck aber erfüllen sie in den allermeisten Fällen nicht. Sie suggerieren Vergleichbarkeit nur, können sie aber auf ihrer schmalen Skala kaum abbilden. Steht bei Natalia im Zeugnis in Mathe eine Drei, bedeutet das vielleicht: "Du kannst das besser!" Dieselbe Zensur heißt bei Christian übersetzt dagegen: "Gut gemacht, du hast dich verbessert." Individuelle Leistungen werden durch Noten verwischt und in eine Ziffer gepresst, die den Menschen dahinter niemals gerecht wird. Ein abwägendes Wortgutachten, im Idealfall gepaart mit persönlichem Gespräch mit der Lehrkraft kann das leisten. Ein Verzicht auf Noten hat dabei nichts mit einem Verzicht auf Beurteilung - Stichwort: Kuschelpädagogik - zu tun. Er macht nur einen differenzierteren Blick auf schulische Leistungen möglich.

Dass wohl dennoch viele hessische Schulen davor zurückschrecken werden, auf Zensuren zu verzichten, ist allerdings auch Teil der schulischen Realität. Denn persönliche Wortgutachten für jedes einzelne Kind zu erstellen, ist zwar pädagogisch sinnvoll; Lernentwicklungsgespräche sind mit Sicherheit gut für Lehrer-Schüler-Bindung und Motivation - für die Lehrkräfte aber ist beides ein immenser Aufwand. In Zeiten des Lehrermangels ist der an vielen Schulen kaum zu stemmen.

Umso vernünftiger ist die Entscheidung des hessischen Kultusministers, die Schulen nicht zu Wort und Gespräch statt zur Note zu zwingen. Sie dürfen selbst entscheiden. Wenn jedoch viele Kollegien den anstrengenderen Weg ohne Noten wählen, kann das nur im Sinne der Kinder sein. Denn Schule ohne Zensuren ist sicher nicht inhuman und falsch, wie das Volker Bouffier vor Jahren geraunt hat. Sie ist menschlich und fair.

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