Mobbing:Wie Jungen zu Mobbingopfern und dann zu Tätern werden

Lesezeit: 5 Min.

Seit dem Amoklauf in München wird wieder mehr über Mobbing gesprochen. Vor allem viele Jungen reagieren auf Kränkungen mit totalem Rückzug oder Aggression.

Gastbeitrag von Wolfgang Schmidbauer

In der Verbindung mit dem Gespenst des Schüler-Amoklaufs hat der Begriff des Mobbing neue Aktualität gewonnen. Viele Täter, so heißt es, seien Mobbingopfer gewesen. Der junge Mann, der in München neun Menschen erschoss, wurde laut Berichten von Mitschülern schikaniert. Sie urinierten auf seine Kleider, misshandelten ihn, nahmen ihm Sachen weg.

In der Verhaltensforschung wird mit Mobbing die feindselige Reaktion von Tieren in Gruppen beschrieben. Krähen "mobben" die Eule oder die Katze, die sich ihrer Kolonie nähert, indem sie krächzen und Drohangriffe fliegen. Hühner "mobben" das hinkende, das räudige Huhn.

Wer die Gefühlsmischungen menschlicher Mobber untersucht, findet die Szene aus der Tierbeobachtung durchaus triftig: Wer mobbt, tut es meist, weil das Opfer seine Erwartungen nicht erfüllt. Es sind primitive Erwartungen, nicht unbedingt niveauvoller als die des Huhns, das den hinkenden Artgenossen hackt: Gemobbte "stören", sie "passen nicht zu uns", sie sollen verschwinden oder müssen passend gemacht werden.

Frühe soziale Beziehungen prägen das Verhalten in der Schule

Aber dieses Modell mit seiner schlichten Zweiteilung von Tätern und Opfern wird der Realität selten gerecht. Ob ein Kind befriedigende soziale Beziehungen aufbauen kann oder nicht, hängt von Regelkreisen ab. In der Begegnung mit einer Gruppe beleben sich frühe Erfahrungen. So ist es wichtig, ob sich das Kind in seinen frühen Beziehungen erwünscht und "interessant" gefühlt hat. Es wird sich dann später auch in der Schulklasse für die anderen Kinder interessieren und auf diese zugehen.

Waren die frühen Beziehungen von Feindseligkeit geprägt, wird ein Kind eher auch die Mitschüler fürchten, sich zurückziehen, Halt in der Anpassung an die Lehrer suchen, andere kritisieren oder verpetzen. Solche Gefühle von Kindern sind nicht zwingend von den Eltern bestimmt. Geschwister und Spielkameraden spielen eine ebenso wichtige Rolle.

Die Gefahr eines negativen Regelkreises wächst, je öfter er durchschritten wurde. Wer anderen ohne Charme, mit einer Mischung aus Angst und Aggression begegnet, wird sich nicht beliebt machen, findet keinen Schutz in der Gruppe und weckt Gegenaggressionen. Zu Beginn unserer seelischen Entwicklung können wir Kränkungen nicht ohne heftige Reaktionen von Angst, Wut und Zerstörungswünschen verarbeiten. Die menschliche Kinderstube sollte ebenso wie die Schule dazu beitragen, solche primitiven Reaktionen zu neutralisieren und angemessenere Umgangsformen zu entwickeln.

Eltern und Erzieher stehen dabei von zwei Seiten unter erheblichem Druck: Sie müssen ihre eigenen Kränkungsreaktionen disziplinieren, können die körperliche Überlegenheit des Erwachsenen nicht mehr ausspielen. Damit geht eine elementare Führungskompetenz verloren, die nur unter günstigen Umständen angemessen ersetzt werden kann.

Gesetze helfen ihnen dabei wenig. Eine menschlich hochstehende Pädagogik per Vorschrift durchzusetzen, offenbart eine typische Schwäche der Moderne. Sie versucht, das Gute durch ein Gesetz zu schaffen, und erkennt zu spät, dass auf diesem Weg neues Übel entsteht. In der Erziehung ist das beispielsweise der Rückzug vom Kind, die vermiedene Auseinandersetzung, das Beharren auf Empathie in unterschiedlichen Positionen.

Eltern, die aufgrund günstiger emotionaler und sozialer Bedingungen Zeit und Geduld haben, um mit den Kämpfen zwischen den Generationen fertig zu werden, haben noch nie Vorschriften gebraucht, um sich angemessen ihren Kindern zuzuwenden. Andere, die sich sonst gehen lassen würden, mag das Gesetz zurückhalten. In viel zu vielen Fällen aber führen die Widersprüche zwischen dem Anspruch an eine "gute" Erziehung und den realen Ressourcen der Eltern dazu, dass sich diese von ihren Kindern zurückziehen, sich nicht mehr mit ihnen auseinandersetzen, sie den professionellen Erziehern in Kindergarten und Schule überlassen, die wiederum überlastet werden.

In der Medienwelt können unsichere Jungs den Heldentraum leben

So aber kann sich die Fähigkeit nicht mehr entwickeln, Kränkungen zu verarbeiten, sie als Teil des Lebens zu nehmen, sich nach ihnen wieder zu versöhnen. Die Folgen beklagen die Lehrer. Die Zahl unkonzentrierter, schnell beleidigter, schnell aufgebender, steten Zuspruchs bedürftiger Kinder wächst. Von der Grundschule bis zur Universität schwindet die mittlere Gruppe der einigermaßen angepassten, funktionierenden, weder herausragenden noch unfähigen Zöglinge. Sie schwindet vor allem unter den Jungen. In der Familie, in der Schule, in den Cliquen, in den sozialen Medien wird es immer schwerer, Kränkungen zu verarbeiten. Zu mobben und gemobbt zu werden, einen Shitstorm zu entfachen oder sein Opfer zu werden ist Teil des Alltags von Heranwachsenden.

Kinder und Jugendliche, die unglücklich und voller Neid auf jene blicken, die sich beliebt machen können und in ihren Cliquen schwimmen wie Fische im Wasser, ziehen sich nun in Medienwelten zurück. Diese entlasten die gekränkte Seele, weil eine unsichere Männlichkeit dort doch noch einen Heldentraum träumen kann - und gleichzeitig die Möglichkeit hat, sich an jenen zu rächen, die schuld sind an sozialen Ängsten und dem quälenden Gefühl, keinen Platz zu finden in der Realität.

Im Münchner Fall hatten die berichteten Quälereien offenbar einen sexuellen Aspekt. Mitschüler sollen David S. als Mädchen geschminkt haben. Das ist wesentlich, denn in seiner großen Studie über den Prozess der Zivilisation hat Norbert Elias minutiös verfolgt, wie die Modernisierung einer Gesellschaft immer auch die Zurücknahme männlich-narzisstischer Dominanz ist. Wo das Faustrecht herrscht, ist der Mann überlegen. Sobald Höflichkeit, Gesetz und Recht regieren, verliert er viel Kraft damit, sich Regeln zu unterwerfen, über die er sich lieber hinwegsetzen würde, während die Frauen sie begrüßen und nutzen.

ExklusivAmoklauf
:David S. und seine gefährlichen Freunde

In einem Freund des Amokläufers von München sehen Ermittler eine "tickende Zeitbombe" - und er ist offenbar nicht der Einzige. Mit Rechtsextremismus hatte David S. aber nichts zu tun.

Von Martin Bernstein und Susi Wimmer

Wo es in der westlichen Welt eine gute Schulbildung gibt, haben Jungen schlechtere Noten; sehr viel mehr von ihnen verlassen die Schule ganz ohne Abschluss. Auch in den Fächern, die als "unweiblich" gelten, Mathematik und Naturwissenschaften, bringen Mädchen im Durchschnitt bessere Leistungen. Die Analysen dieses Phänomens haben die populäre These entkräftet, dass die Jungen durch die meist weiblichen Lehrkräfte benachteiligt werden.

Mädchen bekommen immer schon bessere Zensuren als Jungen

Alle Lehrer, Männer wie Frauen, benoten Mädchen besser; zudem waren die Zensuren der Jungen auch schon vor hundert Jahren schlechter, als das Bildungssystem noch von Männern dominiert wurde. In neutralen Tests unterscheiden sich die Geschlechter sehr viel weniger als in den Schulnoten. Noten spiegeln vor allem den Eindruck wider, den die Schule von der Fähigkeit der Schüler hat, mitzuarbeiten und sich an vorgegebenen Zielen zu orientieren. Sie bewerten die Konzentration während einer Prüfung, das Durchhaltevermögen in der Vorbereitung, die Lernbereitschaft.

Männer sind Verlierer in einer Arbeitswelt, in der Fleiß und Disziplin bei beiden Geschlechtern gleich gefördert und gefordert werden. Unter diesen Bedingungen zeigt sich, dass sie sich im Durchschnitt schlechter konzentrieren können und schneller aufgeben. Das Problem scheint die Überzeugung zu sein, Jungen müssten sich nicht anstrengen, um Erfolge zu haben.

Das männliche Selbstgefühl ist empfindlicher und labiler als das weibliche. Das kleine Mädchen hat in den meisten Fällen schon früh einen belastbaren Kern, weil es sich mit der Person identifizieren kann, die in aller Regel die erste ist, der ein Kind begegnet: mit der Mutter.

Der kleine Junge identifiziert sich ebenfalls mit der Mutter, doch muss er diese Identifizierung später in sich bekämpfen. Daher ist sein Selbstgefühl weniger belastbar. Frauen sind besser gerüstet, aus einer unterlegenen Position das Beste zu machen. Männer haben größere Mühe, Kränkungen ohne den Rückgriff auf primitive Reaktionen wie totalen Rückzug oder wütenden Angriff zu bewältigen.

Die Angst vor Frauen plagt Männer in unsicheren Situationen

Die Angst vor Frauen, die ihre Rechte wahrnehmen und sich in einer Welt differenzierter Berufe besser zurechtfinden als sie, plagt Männer überall dort, wo sie sich einer unsicheren Zukunft gegenübersehen. Dies ist beispielsweise in vielen Schwellenländern der Fall. Auch das ist ein Grund dafür, dass die Taliban in Afghanistan, der IS in Syrien und die Anhänger von Boko Haram in Nigeria die Schulbildung für Mädchen wieder abschaffen. Diese Anstrengungen gleichen aber dem Versuch, das Fieber zu heilen, indem man das Thermometer zerbricht.

Es schafft auch eine untergründige Verwandtschaft zwischen Terroristen, Amokläufern und radikalen Ideologen fast ausschließlich männlichen Geschlechts. Allen gemeinsam fehlt die Bereitschaft, durch Neugierde die Kluft zu überbrücken, die Männer und Frauen ebenso trennt wie Menschen unterschiedlicher Kulturen. Das fängt in der Schulklasse an: Der einfühlende Umgang mit der Kränkbarkeit des Mitschülers oder der Mitschülerin kann erlernt und geübt werden - oder eben auch nicht.

Wolfgang Schmidbauer, 75, arbeitet als Autor und Psychoanalytiker in München. 2003 veröffentlichte er das Buch "Der Mensch als Bombe. Zur Psychologie des neuen Terrorismus".

© SZ vom 09.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Klassenkampf - der Schulratgeber
:Was bei Mobbing zu tun ist

Der Sohn wird wegen einer leichten Behinderung in der Schule ausgegrenzt. Eine Schulpsychologin erklärt, wie Lehrer, Eltern und Schüler reagieren können.

Von Matthias Kohlmaier

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: