Gesellschaft:Wenns um Bildung geht, wollen alle immer mehr

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Kinder sollten nicht nur Rechnen und Lesen lernen, sondern auch an Geschichte und Kunst herangeführt werden, sagen Lehrende. In der Münchner Glyphotek können sie mit einem Audioguide antike Skulpturen entdecken. (Foto: Catherina Hess)

Aber selten werden die Forderungen so konkret, dass man über deren Inhalte verhandeln könnte. Was also wollen wir eigentlich?

Von Thomas Steinfeld

Dass man mehr für "die Bildung" tun müsse, darüber scheinen sich nicht nur die meisten deutschen Politiker einig zu sein, sondern auch große Teile der Bevölkerung. Als Martin Schulz, der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten, in der vergangenen Woche erklärte, er wolle alle Gebühren für den Besuch von Einrichtungen der Bildung abschaffen, von der Kindertagesstätte bis zur Hochschule, war ihm daher viel Zustimmung sicher.

Die Debatte handelte folglich in der Hauptsache von den Möglichkeiten, die fünf oder zehn Milliarden Euro zu bezahlen, die das Versprechen nach sich ziehen würde. Ein wenig sonderbar ist das schon: Denn kann es sein, dass "die Bildung" in Deutschland so darniederliegt, dass diesem Missstand mit einer gigantischen Förderung abgeholfen werden muss? Und was, bitte, wäre überhaupt unter dieser "Bildung" zu verstehen?

Mehr als die Hälfte der jungen Menschen eines Jahrgangs legt mittlerweile das Abitur ab. Vor zwanzig Jahren war es nur gut ein Drittel. Fast drei Millionen Studenten gibt es in Deutschland, fast doppelt so viele wie unmittelbar nach der Wiedervereinigung. Die vor ein paar Tagen veröffentlichten Ergebnisse der jüngsten Pisa-Studie mögen offenbart haben, in welchem Maße sich Schulkinder untereinander quälen - einen Zweifel daran, dass sie weniger können als die Schulkinder anderer Staaten begründen sie nicht. Irgendetwas kann also an der Behauptung nicht stimmen, man müsse "der Bildung" in Deutschland unbedingt aufhelfen.

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Wenn sie dennoch als mangelhaft erscheint, so kann das entweder nur an ihr selber liegen, daran also, dass sie nicht die Bildung ist, die man gerne hätte. Oder daran, dass es viele junge Menschen gibt, denen sie nicht zugänglich ist - obwohl sie tatsächlich jedem offenstehen müsste. Dadurch aber verändert sich der Gegenstand der Debatte: Denn die Frage nach einer anderen, zugänglicheren oder begehrenswerteren Bildung lässt sich nicht mit der Forderung nach mehr Bildung beantworten.

Bildung ist mehr als Rechnen, Schreiben, Lesen

Was müssten diese jungen Menschen können, wenn sie das könnten, was sie können müssten? Man frage herum, unter Lehrern und Hochschullehrern, und die Antworten lauten wenig erhebend: Einmal abgesehen davon, dass die Mängel in den sogenannten primären Kulturtechniken, also Lesen, Schreiben, Grundrechenarten, die schon bei den ersten Pisa-Untersuchungen auffielen, immer noch nicht behoben zu sein scheinen, fehlen vor allem Kenntnisse, die unter einen traditionellen, enger gefassten Begriff von "Bildung" fallen. Das beginnt beim historischen Wissen, die Religions-, Literatur- und Kunstgeschichte eingeschlossen, es setzt sich fort in den Fremdsprachen, mit Ausnahme vielleicht des Englischen.

Und wenn es um selbständige kulturelle Leistungen geht, wird es vollends schwierig: Einen Gedanken in einzelnen Schritten zu entwickeln, einem Gegenstand in einem Brief, in einer Rede oder auch nur in einer Beschreibung eine freie und selbständige sprachliche Form zu geben, eine Kritik sachlich und konsequent zu formulieren - all das setzt Fähigkeiten voraus, die offenbar nicht weit verbreitet sind. Das waren sie vor einer Generation vielleicht auch nicht. Doch besaß damals auch nicht die Hälfte eines Jahrgangs das Abitur. Und: Fallen diese Fähigkeiten überhaupt unter den gegenwärtigen Begriff von "Bildung"?

Es fällt nun aber auf, dass die Forderungen nach mehr Bildung selten so konkret werden, dass man über deren Inhalte verhandeln könnte. Stattdessen scheint die Anrufung von "Bildung" schlechthin auszureichen. Mit "Bildung" wird offenbar eine Gemeinsamkeit, wenn nicht gar eine Gemeinschaft beschworen, in der sich die Menschen in einem von allen geteilten Wissen vereinen - ganz so, wie es (vermeintlich) früher war, als die Menschen (angeblich) alle Schillers "Glocke" auswendig hersagen konnten, oder doch wenigstens den "Erlkönig" von Goethe.

Das Phantom "Bildung" ersetzt insofern für deutsche Verhältnisse, was 1994 der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom mit seinem Werk "The Western Canon" versucht hatte, oder auch das dänische Kulturministerium mit dem nationalen "Kulturkanon" im Jahr 2005. Die Kategorie "Bildung" zielt aber offenbar noch höher hinauf, bis in die luftigen Regionen, die den Fragen nach einer "Identität" gewidmet sind - sodass dann keiner mehr weiß, was gemeint sein soll.

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Für dieses Ausweichen vor dem Inhalt lässt sich ein weiterer Grund benennen: die Pädagogisierung der Schule oder, anders formuliert, der Übergang vom Lernen zum Lernen des Lernens. Wenn es um die Entwicklung von "Kompetenzen" gehen soll, erscheinen diese gegenüber ihren Gegenständen als selbständig. "Kompetenzen" sind Fähigkeiten, die auf ihre Verwertung hin konzipiert sind und sich an beliebigen Sujets geltend machen lassen. Sie setzen wenig sachliche Kenntnisse voraus, sie verwandeln Wissen in Verfahren, sie beschleunigen die Verfallsgeschwindigkeit des Wissens. Was jetzt gelernt wird, kann morgen vergessen werden.

Auswendiglernen findet heute an den Universitäten statt

Die naheliegende praktische Folge dieser Verwandlung besteht darin, dass die Schule zunehmend von Aufgaben befreit wird, die Anforderungen an das Gedächtnis stellen - und dabei geht es keineswegs nur um das Auswendiglernen von Verben mit unregelmäßiger Konjugation oder von Namen der Nebenflüsse des Rheins, sondern etwa auch um den Umgang mit langen, gar literarischen Texten oder mit komplizierteren historischen Sachverhalten.

In den ersten Jahren des Studiums muss dann nachgeholt werden, was in der Schule an positivem Wissen nicht erworben wurde. Dadurch entsteht das Paradox, dass die Universität in vielen Fächern in den ersten Semestern mehr einer Schule gleicht, als es die Schule in ihren späten Jahren tut. Dass eine solche Schule keine besonders ernstzunehmende Einrichtung mehr darstellt, also an Geltung einbüßt, liegt ohnehin auf der Hand. Für die Universität gilt das übrigens auch.

Mit der abstrakten Forderung nach mehr "Bildung" aber sind Verhängnisse dieser Art nicht aufzuheben. Im Gegenteil, eine solche Forderung verschleiert mehr, als sie erklärt. Überhaupt scheint es notwendig zu sein, diesen Begriff vom Pathos der Gemeinschaft eines einigen Wissens zu befreien und ihn zum Beispiel historisch zu betrachten. Dann stößt man etwa darauf, dass "Bildung" um die vorvorige Jahrhundertwende zu einer Vokabel des Schreckens geworden war, angesichts einer Schule, die mit autoritären, ja bösartigen Mitteln versuchte, gegen die Schüler eine verhärtete, gegen die Welt abgedichtete Vorstellung von Wissen durchzusetzen.

Die Literatur jener Zeit ist voller Bildungskatastrophen, nachzulesen etwa in Frank Wedekinds Drama "Frühlings Erwachen", in Hermann Hesses Erzählung "Unterm Rad" oder in Friedrich Torbergs Roman "Schüler Gerber". Der "Geist" oder das "Leben" waren einmal polemische Formeln gegen einen solchermaßen versteinerten Begriff von Bildung.

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Lernen kann jeder nur für sich allein

Und ist nicht über dem Enthusiasmus für "die Bildung" ebenfalls vergessen worden, dass es einst so etwas wie "Halbbildung" gab, das heißt einen in bürgerlichen Kreisen herrschenden Zwang, sich gegenseitig mit zu Fetischen mutierten Restbeständen einer humanistischen Bildung zu traktieren? Der Philosoph Theodor W. Adorno hatte zur Abwehr dieser Veranstaltung eine ganze "Theorie der Halbbildung" verfasst.

Anders gesagt: Wer heute inständig für "die Bildung" plädiert, offenbart zumindest eine gewisse Ignoranz gegenüber der Geschichte eines Begriffs, der in seiner Karriere immer wieder die Bedeutung änderte. Das Gerede von "der Bildung" (in einem neuen Sinn) bleibt Ideologie, solange nicht darüber gesprochen wird, was gelernt werden soll, von wem und für welchen Zweck.

Das Letzte, was Bildung verspricht, ist deswegen das Erste, was ihre gegenwärtigen Verfechter im Sinn haben: so etwas wie eine umfassende kulturelle Stabilität, eine Gewissheit von Kenntnissen und Fähigkeiten, die allen Bürgern gemeinsam wäre. Dabei liegt das Kollektiv gar nicht in ihrer Reichweite. Wenn Bildung (in einem älteren Sinn) glückt, ist sie nicht einmal demokratisch. Denn gelingen kann sie nur im einzelnen Menschen, indem dieser einen kulturellen Gegenstand gedanklich ergreift und zu seiner Sache macht - um seinetwillen und aus keinem anderen Grund.

© SZ vom 22.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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