Als der Meisterdirigent Kent Nagano vor einiger Zeit klagte, "das ganze musikalische Erziehungssystem" liege darnieder, war das auch ein Seitenhieb gegen Pisa: Schneidet ein Land bei dem Vergleichstest in Mathe, Naturwissenschaften und Leseverständnis gut ab, dann gilt sein Bildungssystem ebenfalls als gut. Nagano findet das borniert: "Da fehlen die Künste, die unseren Geist öffnen, uns inspirieren und in die Lage versetzen, kreativ zu werden."
Musik spricht die Sinne an, Musizieren fördert die kindliche Entwicklung - doch ausgerechnet in der Grundschule, wo die Weichen gestellt werden, habe der Musikunterricht nur eine geringe Bedeutung, kritisiert Ortwin Nimczik. Der Vorsitzende des Bundesverbands Musikunterricht fordert seit vielen Jahren, es müssten mehr Musiklehrer angestellt und das Ansehen des Fachs verbessert werden.
Während die Situation an Gymnasien oft gar nicht übel sei, werde der Musikunterricht an Grundschulen bis zu 75 Prozent von fachfremden Lehrern erteilt. "Oder er fällt schlicht aus", sagt Nimczik. Dabei seien Grundschulkinder besonders neugierig und lernbegierig und offen für alle musikalischen Richtungen. "Dieses Fenster muss man nutzen", findet Nimczik und verlangt einen lebendigen, kontinuierlichen Musikunterricht für alle Kinder.
Von Kontinuität kann aber nicht die Rede sein, wenn Musikstunden immer wieder gestrichen werden. Die Frage, wie viel Unterricht genau ausfällt, kann der Verband nicht mit amtlichen Zahlen beantworten, bundesweite Statistiken fehlen. Immerhin lässt das größte Bundesland Nordrhein-Westfalen die Dimension erkennen, da es entsprechende Daten veröffentlicht. Ortwin Nimczik hat die Statistiken gelesen und ist auf "Eigentümliches" gestoßen: Eigentlich müssten die Fächer Musik und Kunst annähernd gleich stark vertreten soll, denn so geben es die amtlichen Stundentafeln vor. Stattdessen führe die Statistik des Schuljahres 2015/16 für die Grundschule gut 57 000 Stunden Kunstunterricht auf, aber nur gut 39 000 Stunden Musikunterricht. In den Realschulen beträgt das Verhältnis 14 000 zu knapp 9000.
Das nordrhein-westfälische Schulministerium nennt auf Anfrage eine Zahl, die Nimczik in seinem Unmut bestätigt: Mehr als 68 Prozent aller Musikstunden im laufenden Schuljahr wurden bislang von Lehrern erteilt, die keine Musiklehrer sind.
So ähnlich dürfte es auch an der Grundschule Sauerlach im Süden Münchens sein. Dort übt Klassenlehrerin Nicole Hofmann mit ihren Erstklässlern gerade ein Frühlingslied ein, passend dazu leuchtet die Sonne ins Klassenzimmer der 1 d. Schon nach einer Wiederholung hat sich der Ohrwurm festgesetzt: "Ti-ri-tom-ba, ti-ri-tom-ba", singen die Kinder, Nicole Hofmann greift in die Saiten der Gitarre und stimmt mit lauter, klarer Stimme die nächste Strophe an. Die Kinder haben sichtlich Spaß, und die 41-Jährige weiß, was sie tut, sie hat Musik im Hauptfach studiert. Damit ist sie die Einzige hier. Auch in den beiden Schulen, in denen sie zuvor unterrichtete, gab es niemanden, der Musik als Hauptfach hatte.
Das heißt nun nicht automatisch, dass andere Grundschullehrer von Musik keine Ahnung hätten. Einige wenige studieren Musik als eines von mehreren Didaktikfächern. Außerdem müssen seit einigen Jahren in Bayern alle angehenden Grundschullehrer eine Basisqualifikation für die Vermittlung von Musik erwerben. Und Pädagogen, die weder Musik studiert noch dieses Grundwissen haben, können Fortbildungen aus der Reihe "Verstärkung der Musikpraxis an Grundschulen" des bayerischen Kultusministeriums durchlaufen. Das macht aus ihnen zwar keine Musiklehrer, doch es reicht dem Ministerium, um die Zahlen des Bundesverbands zum "fachfremden Unterricht" zurückzuweisen.
Hofmann selbst hat als Schülerin Klavier ab der zweiten Klasse gelernt, später mit Querflöte begonnen und im Chor gesungen. Nicht jedem liegt das so im Blut: "Es gibt immer ein paar, die gerne Musik unterrichten, ob studiert oder nicht, und andere, die es lieber vermeiden."
Nicht nur an Grundschulen führt die Musik ein Schattendasein. Heidi Speth, Vorsitzende des Verbands Bayerischer Schulmusiker und Musiklehrerin am Münchner Theresien-Gymnasium, kennt auch die Situation an den Mittelschulen, den bayerischen Hauptschulen. Dort finde oft gar kein Unterricht statt. "Die Schüler können zwischen Musik und Kunst wählen. Da Musiklehrer fehlen, wählen sie eben Kunst."
Horst Weishaupt vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung hat die Situation in Hessen untersucht. In einer aktuellen Studie vergleicht der Bildungsforscher das Angebot an Musiklehrern mit dem Unterrichtsbedarf. Ergebnis: An Grund-, Haupt- und Realschulen müssten die Musiklehrer 70 Prozent ihrer Unterrichtszeit nur für Musik aufwenden. Aber sie unterrichten ja noch ein zweites Fach. Ortwin Nimczik, seit 1994 Professor für Musikpädagogik und -didaktik an der Hochschule für Musik Detmold, schließt aus der Studie: "Wir bräuchten mehr als doppelt so viele Musiklehrer."
Tatsächlich ist die Zahl der Studienanfänger für das Lehramt Musik gesunken: von 840 im Jahr 2000 auf 650 in 2015. Nur bei Instrumental- und Orchestermusik steige die Nachfrage, teilt das Deutsche Musikinformationszentrum mit. Das liegt am Image, glaubt Nimczik. Der Musiklehrer genieße bedauerlicherweise ein viel geringeres Ansehen als der Konzertmusiker.
An Ideen, wie man mehr Studenten gewinnen könnte, fehlt es nicht. Der Verband schlägt etwa vor, für das Musiklehrerstudium den eventuellen Numerus clausus eines Zweitfachs abzusenken. An der Uni Köln zum Beispiel ist das nach einer Musikeignungsprüfung möglich. Nimczik findet allerdings, Eignungsprüfungen seien oft zu streng, zu perfektionistisch. "Falsch verstandene künstlerische Hürden dürfen den Weg ins Musiklehrerstudium nicht verbauen", sagt der Hochschulpädagoge. "Musiklehrer sollen ja nicht auf der Bühne stehen, sondern Kinder für Musik begeistern."