Eine riesige Schneeflocke klebt an der Fensterscheibe. Immer wieder leuchtet sie langsam auf, hüllt den Raum in mattes Licht und erlischt wieder. Das Dekorationsstück ist die einzige Lichtquelle in dem Pförtnerhäuschen des Erlanger Schlachthofs. Der Betreiber Richard Großhauser und einige Mitarbeiter sitzen hier bei Kaffee im Warmen und warten auf die Lieferungen. Sie kommen jeden Tag in den dunklen Morgenstunden, wenn die Stadt noch schläft, versteckt vor allen Blicken. Doch etwas ist anders an diesem Morgen. Auf der anderen Seite der Hofeinfahrt harrt Alexander Kolb mit etwa fünfzehn weiteren Leuten in der Kälte aus. Alle tragen gelbe Warnwesten mit der Aufschrift "Animal Save". Kolb, 41, im Hauptberuf Wirtschaftsanwalt, leitet die Tierschutzgruppe. Auch die Demonstranten warten auf die Transporte.
Etwa 800 Tiere würden heute geliefert, sagt Großhauser. Geschlachtet würden in seinem Hof pro Stunde im Schnitt 50 Stück. Er spricht von Schweinen und Rindern. Plötzlich hört man von Weitem das Brummen eines Motors. Ein Laster biegt ein und fährt auf den Schlachthof zu. Die Tierschützer blicken auf, einige halten Schilder hoch. "Bitte geben Sie uns zwei Minuten", steht darauf in großen Lettern. Tatsächlich hält der Truck an. Der Geruch von Schweinen dringt aus dem Lkw und seinem Anhänger heraus. Die Tierschützer nähern sich den geöffneten Klappen. Dicht an dicht stehen in dem Anhänger 90 Schweine, einige haben Schaum vor dem Mund. Sowie sie die Menschen draußen bemerken, drängen sich die Tiere neugierig zu den Öffnungen. Die Tierschützer fangen an, sie zu streicheln.
Kolb holt sein Handy aus der Tasche und dokumentiert das Geschehen. Er wirkt niedergeschlagen. "Die Tiere werden in der Gesellschaft nicht als Individuen wahrgenommen, sondern als anonymisierte Stückzahl", sagt er. Dabei habe jedes seinen eigenen Charakter, wie ein Hund auch. Anfang des Jahres hat sich die Nürnberger Gruppe von "Animal Save" gebildet. Bereits zum sechsten Mal hält sie am Erlanger Schlachthof eine Mahnwache ab. Die globale "Save"-Bewegung will Nutztiere auf ihrem Weg in den Schlachthof begleiten und ihnen Beistand leisten, wie Kolb sagt.
Deshalb stellen sich ihre Mitglieder frühmorgens an Schlachthöfen auf und halten dort die Tiertransporte an. Deshalb sprechen die Aktivisten mit den Tieren auf den Ladeflächen, beruhigen sie und geben ihnen Wasser zum Trinken. "Wir demonstrieren nicht gegen die Schlachthofmitarbeiter, sondern gegen dieses wahnsinnige System", sagt Kolb. "Das ist das Mindeste, was wir den Tieren schulden. Dass sie nicht einfach still und heimlich um die Ecke gebracht werden." Mit seinen Filmen und Fotos will Kolb erreichen, dass die Menschen zumindest zur Kenntnis nehmen, was die Massentierhaltung, die langen Transporte auf engstem Raum und die Schlachtungen für die Nutztiere bedeuten.
Schlachthofchef Großhauser hat sich an diesem Morgen ebenfalls neben den Lkw gestellt, einige Meter von den Tierschützern entfernt, die Hände in den Hosentaschen. Er murmelt vor sich hin, ist skeptisch, ob die Mahnwache der Gruppe wirklich dem Tierschutz dient. "Die Tiere sind ruhig während der Fahrt", sagt er. Der Stress sei immer das Anhalten und Anfahren. "Die kriegen von uns genauso viel Stress wie ein Hund, der gestreichelt werden will", entgegnet Kolb. "Also gar keinen."
Die Gewalt gegen die Tiere wird ausgeblendet
Tamara Pfeiler ist Psychologin an der Universität Mainz und beschäftigt sich viel mit dem Thema Fleischkonsum. Bei ihren Forschungen stößt Pfeiler immer wieder auf einen fundamentalen Widerspruch. Grundsätzlich, so sagt Pfeiler, seien die Menschen empathisch im Umgang mit Tieren. "Aber gleichzeitig essen wir tierische Produkte und unterstützen damit eine Industrie, die sich durchweg durch Gewalt gegen bestimmte Tiere auszeichnet", sagt die Psychologin. "Diese Gewalt blenden wir komplett aus."
Bei diesem Ausblenden spielen laut Pfeiler allerlei psychologische Mechanismen eine Rolle. Einer sei etwa, dass das Produkt Fleisch völlig von der Vorstellung vom jeweiligen Nutztier getrennt werde, erklärt Pfeiler, so als hätten ein Rinderbraten und das Rind, von dem er stammt, nichts miteinander zu tun. Außerdem spiele die Sprache eine bedeutende Rolle. "Wir sagen zum Beispiel nicht Tötung, sondern sprechen von einem Produktionsprozess", sagt die Psychologin. Damit würden den Nutztieren Eigenschaften wie Leidens- oder Empfindungsfähigkeit abgesprochen, man verwandle sie gleichsam in leblose Objekte. Allein diese beiden Mechanismen verhindern der Psychologin zufolge eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Fleischkonsum. So sei das auch bei ihm gewesen, sagt der "Animal-Save"-Aktivist Kolb, der seit eineinhalb Jahren vegan lebt. Er habe 40 Jahre lang zugelassen, dass für seinen Fleischkonsum Tiere getötet werden, sagt er. Heute bereue er, dass er sich nicht früher über die Massentierhaltung und -schlachtung informiert habe.
Wenn Kolb und der Schlachthofchef Großhauser erzählen, treffen zwei völlig gegensätzliche Weltsichten aufeinander. Es wird deutlich, was Pfeiler mit der Macht der Sprache meint. Großhauser betont, dass in seinem Hof alle "Prozesse" geregelt abliefen und kontrolliert würden. "Man muss schon vorsichtig sein", sagt er, als er da in der Einfahrt des Erlanger Schlachthofs steht und mit den Schlüsseln in seiner Hosentasche klimpert. "Wir handeln ja keine DIN-Schrauben. Wir handeln lebendes Material." Inzwischen haben sich die Tierschützer wieder von dem Tiertransporter zurückgezogen. Der Fahrer steigt ein, lässt den Motor an und fährt in den Hof, vorbei an der leuchtenden Schneeflocke. Dorthin, wo die Tiere getötet werden.