Tierhaltung:Warum deutsche Bauern Schweinen den Ringelschwanz abschneiden

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Die meisten Schweine dürfen ihren Ringelschwanz nicht behalten. (Foto: Katrin Langhans)

Die Amputationen sind in der EU seit mehr als 20 Jahren verboten. Wer nachfragt, warum die Praxis in Deutschland dennoch so weit verbreitet ist, erhält makabre Antworten.

Reportage von Katrin Langhans

Die Revolution im Schweinestall ist rosa, länglich und haarig. Sie ringelt sich wie eine Schnecke, wenn sich das Schwein wohl fühlt, und klemmt zwischen den Pobacken, wenn es krank ist oder ihn die Zugluft stört: Der Ringelschwanz.

"Wenn er hängt, kann das am Wetter liegen oder am neuen Futter", sagt Ralf Remmert, 49, graues Haar, Gummigaloschen, Blaumann. "Schweine sind sensibler als Menschen". Remmert läuft über den betonierten Boden seines Schweinestalls, ein alter Bau aus DDR-Zeiten. Warmes Kunstlicht strahlt aus Lampen in die Stallbuchten. Wenige Wochen alte Ferkel strecken neugierig ihre Schnauzen in die Höhe. Es riecht nach Gras und Gülle. "Denen läuft schon das Wasser zusammen", sagt Remmert, schmunzelt, und wirft etwas Heu in den Ferkelstall. Die Tiere wühlen hastig im Futter. An ihren hochgestreckten Schweinepopos kringeln sich die Schwänze. "Der Ringelschwanz ist wie ein Kompass", sagt Remmert.

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Der Schwanz eines gesunden, wenige Wochen alten Ferkels ist etwa zehn Zentimeter lang, voller Muskeln und an seinem Ende laufen die Borsten buschig aus. Es ist ein Schwanz, wie man ihn aus dem Film "Schweinchen Babe" kennt, oder aus dem Bilderbuch vom dicken Waldemar. In vielen Schweineställen aber sucht man ihn vergebens: Beim Mastschwein ragt stattdessen ein Stummel in die Luft.

Ralf Remmert ist einer der wenigen Bauern, der sich dafür einsetzt, dass die Tiere ihren Ringelschwanz behalten dürfen. Landwirte schneiden Expertenschätzungen zufolge mehr als neun von zehn Ferkeln im Alter von nur wenigen Tagen einen Teil der Schwänze ab. Ohne Betäubung. Zwar ist bis heute nicht abschließend geklärt, was das junge Ferkel spürt, aber Wissenschaftler glauben, dass der Prozess schmerzhaft ist. Und er ist verboten: Eine EU-Richtlinie untersagt seit mehr als zwanzig Jahren das routinemäßige Abschneiden der Schwänze. Amputationen, so regelt es die nationale Haltungsverordnung, sind nur im Einzelfall erlaubt, um die Tiere zu schützen.

Die Langeweile der Mastschweine

Wer der Frage nachgeht, warum Landwirte Ferkeln die Ringelschwänze abschneiden, der stößt auf Wissenschaftler, die vom Leid kranker und gelangweilter Schweine berichten, auf schweigsame Behörden und auf eine Bundesregierung, die trotz vielfacher Warnungen die Symptome der schlechten Tierhaltung bekämpft, anstatt die Ursachen anzugehen. Denn der Grund für die geduldete Praxis ist makaber: Landwirte schneiden den Tieren einen Teil des Schwanzes ab, um zu verhindern, dass sich die Tiere, frustriert oder gelangweilt vom öden Stallleben, selbst die Schwänze blutig beißen.

Das Leben eines Mastschweines ist trostlos: Es steht sein Leben lang auf Beton im Halbdunkeln. Die Luft riecht nach Kot und Urin und brennt oft scharf in den Schleimhäuten, der Unrat fließt durch Spalten im harten Boden ab, die auch zu Gelenkproblemen beim Schwein führen. Zum Spielen hat das Tier, das in der Natur den Großteil seines Tages damit verbringt, mit seiner Schnauze nach Futter zu suchen, oft nur eine Metallkette oder ein Stück Holz. An beidem verliert das intelligente Tier schnell das Interesse. Es langweilt sich. Da ist nichts zum Wühlen, da ist kein Platz, dem nervigen Nachbarn aus dem Weg zu gehen, und an einen Schweinsgalopp ist nicht zu denken. Beim Satz nach vorne rumst das Tier gegen ein anderes Schwein.

"Man muss sich das Schwein wie einen Eimer vorstellen", sagt die Wissenschaftlerin Sabine Dippel, die am Bundesforschungsinstitut für Tierschutz und Tierhaltung forscht. "Der Eimer füllt sich, wenn das Tier Schnupfen hat, ihm zu kalt ist, es lange am Futtertrog anstehen muss oder die Buchtennachbarn nerven", sagt Dippel. Sei der Eimer voll, reiche eine Kleinigkeit aus, um das Schwein aus der Balance zu werfen. Binnen weniger Stunden könne in einem Stall ein Blutbad ausbrechen.

Der Schwanz ist in der Einöde die pure Verführung. Er bewegt sich, man kann ihn erkunden, anknabbern, in den Mund stecken. Wenn die Wunde blutet, erlebt das Schwein einen neuen Geruch, einen neuen Geschmack. "Für manche Tiere ist das das Spannendste ihres Lebens", sagt Sabine Dippel. Die Forschung habe bisher noch keine Lösung für das Problem gefunden. Die Praxis zeigt aber, dass Schwanzbeißen in Bioställen seltener auftritt, weil Bioschweine sich nicht langweilen. Sie dürfen im Stroh wühlen.

In engen Ställen aber droht die Gefahr, dass sich die Tiere an den Schwänzen beißen. Deshalb werden sie gekürzt. (Foto: Ulrich Baumgarten/picture alliance)

In dieser Woche besuchte die EU Kommission Betriebe in Bayern und Niedersachsen, um zu prüfen, woran es scheitert, dass die Richtlinie nicht greift. Aus einem behördlichen Schreiben, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, geht hervor, dass die EU die Bundesregierung bereits im November darüber informiert haben soll, dass die ergriffenen Schritte nicht ausreichen, um das Amputationsverbot durchzusetzen. Weiter heißt es, die EU behalte sich künftig vor, eigene Maßnahmen zu ergreifen.

Ralf Remmert wirft noch eine Ladung Heu in die Bucht. "Na du", sagt er zu einem seiner Ferkel. Das Tier schüttelt sich das Futter vom Kopf und richtet die Schnauze auf den Boden. Zwei bis drei Mal am Tag ist Wühlzeit. Dann schaut Remmert nach den Tieren und gibt ihnen Heu oder gehackten Mais zusätzlich zum Kraftfutter. "Die Schweine brauchen was zu tun", sagt er und reibt sich das Heu von den Händen. Remmert ist ein ruhiger Typ, der gerne tüftelt. Er ist gelernter Elektroingenieur und hat sich vor mehr als zwanzig Jahren bewusst entschlossen, als Landwirt zu arbeiten. Den Hof in Neudorf übernahm er vor elf Jahren, seither züchtet er Prignitzer Landschweine. 1300 Sauen, 5000 Ferkel, 2500 Schweine in der Mast. Seit zwei Jahren dürfen sie den Ringelschwanz behalten. Bis dahin war es ein weiter Weg. "Auch ich habe schon Schwanzbeißer im Stall gehabt", sagt Remmert. Er musste die Tiere in eine gesonderte Krankenbucht stecken und sie beobachten, um herauszufinden, was ihnen missfiel. Das Stallklima? Der Regen? Das Nachbarschwein? "Vielleicht ist es dem Schwein zu dreckig, zu stinkig, zu langweilig, oder es fühlt sich schlapp", sagt Remmert. Er zieht kurz die Schultern hoch und lässt sie wieder sinken. "Die Lösung braucht Zeit", sagt er und streicht einem braun-rosa gefleckten Ferkel über den Rücken.

Es geht auch anders: Landwirt Ralf Remmert gibt seinen Tieren Heu - und schneidet die Schwänze nicht mehr ab. (Foto: Katrin Langhans)

Schweine, das zeigt die Forschung, sind zufriedener, wenn sie Heu oder Stroh haben, um darin auf dem Boden zu wühlen. Sie brauchen Platz, um sich zu bewegen und mit ihrer Schnauze die Umgebung zu erkunden. Das wissen Landwirte, das wissen die Behörden. Vor drei Jahren haben die Regierungen in Deutschland, Dänemark, den Niederlanden und Schweden die EU in einer Stellungnahme gebeten, zusätzliche Tierwohlkriterien wie "mehr Platz" in die Richtlinie zu schreiben, um das Leben der Tiere zu verbessern.

Das Landwirtschaftsministerium könnte das nationale Recht auch eigenständig verschärfen, scheut diesen Schritt aber offenbar. Man befürchte, so heißt es in einem internen Schreiben aus den Reihen des Ministeriums, dass Mäster dann Tiere aus Nachbarstaaten importieren und so den Wettbewerb verzerren könnten. Nur: Wenn am Ende alle Länder der EU auf die anderen zeigen, wird sich am tristen Schweineleben nichts ändern. Litauen und Lettland zum Beispiel haben jetzt schon bessere Quoten als Deutschland. Dort darf EU-Schätzungen zufolge mehr als jedes zweite Schwein seinen Ringelschwanz behalten.

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In dem internen Schreiben aus Ministeriumskreisen heißt es weiter, es würden "massive tierschutzwidrige Zustände" in Ställen ausbrechen, sollte man das Verbot durchsetzen ohne die Haltungsbedingungen zu verschärfen. Ähnlich drastisch beschreibt die Landesbehörde in Sachsen-Anhalt den Konflikt: Schwanzbeißen sei ein Problem, dass man derzeit mit einem "tierschutzrechtlich grundsätzlich verbotenen Eingriff" bekämpfe. Um das Problem zu lösen, müsse man die Schweinehaltung "grundlegend" optimieren.

Zu einem ähnlich radikalen Schluss kam vor drei Jahren auch der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung in seinem Gutachten zur Nutztierhaltung. Die Wissenschaftler beklagten Defizite "vor allem im Tierschutz". Der Staat müsse das Tierwohl verbessern, der Verbraucher weniger Fleisch konsumieren. Das zufriedenere Leben fürs Schwein - so das Fazit der Agrarexperten - würde bis zu 23 Prozent mehr kosten, umgerechnet bis zu fünf Milliarden Euro im Jahr. Das Urteil war vernichtend: Die Haltungsbedingungen seien "nicht zukunftsfähig". Einer der Autoren drückte es in einem Interview mit der SZ mal so aus: Um das Tierwohl zu verbessern müsste man hierzulande neun von zehn Ställen abreißen, ein glückliches Schwein sei mehr als ein nicht gequältes.

Etwa zur selben Zeit saß Ralf Remmert in seinem Schweinestall und fasste den Entschluss, einen "dritten Weg" der Schweinehaltung zu finden. Er dachte über die Schweine seiner Großmutter nach, die im Sommer zufrieden im Gras unter dem Kirschbaum lagen. Er wollte den Tieren ein Leben irgendwo zwischen Paradies und Trostlosigkeit ermöglichen - günstiger als Bio, damit die Verbraucher auch zugreifen. "Ich wollte nicht mehr auf die Politik warten", sagt Remmert. Er gab seinen Tieren etwas mehr Platz, fütterte ihnen eine Mischung aus Heu und Mineralien zu, die er auf eine Gummimatte warf, damit es den Spaltenboden nicht verstopft, gab ihnen eine feste Liegefläche zum Ausruhen, Einstreu zum Wühlen - und im Sommer schmiss er Maiskolben in den Stall. Remmert schnitt den Tieren erst ein Stückchen weniger vom Schwanz ab - und ließ ihn dann ganz am Ferkel.

"Am Anfang haben alle gesagt: Das ist Blödsinn, unbezahlbar", sagt Remmert. Landwirte, Freunde, seine Familie. Und auch die Mäster, denen er die Hälfte seiner Ferkel verkauft, zögerten. Warum sollten sie freiwillig das Risiko tragen, dass sich die Tiere im Stall blutig beißen? Heute hat er feste Abnehmer in Niedersachsen. Als aber im vergangenen Herbst einer ausfiel, kämpfte Remmert ein paar Wochen lang mit Platzproblemen im Stall. Er fand zunächst keinen alternativen Mäster. "Da hab ich selbst gedacht, warum gibst du dir das?", sagt Remmert.

Sensibles Körperteil: Der Ringelschwanz zeigt oft an, ob es dem Schwein gut geht. (Foto: Katrin Langhans)

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Und es ist teuer - zu teuer. "Es gibt Tage, da zahle ich Eintritt in meinen Stall", sagt Remmert mit einem müden Lächeln. Im Januar habe der Ferkelpreis bei etwa 40 Euro gelegen, das deckte nicht einmal die Produktionskosten von etwa 50 Euro pro Tier. Für so wenig Geld könne man kein Schwein gut halten. Remmerts Stimme hebt sich am Satzende, fast so als würde er eine Frage stellen. Sein Blick schweift durch den Stall. "Ideal ist auch das hier nicht, aber es ist ein Anfang", sagt er. Zwei private Investoren unterstützen mittlerweile sein Vorhaben. "Ohne die ginge es nicht", sagt er. Wenn die Tiere vom Ferkel über die Gruppenhaltung der Sau bis hin zum Mastschwein besser leben sollen, müsste er etwa 20 Prozent mehr verdienen, um ohne Hilfe wirtschaftlich zu arbeiten.

Deutschland bricht das Recht, anstatt die Haltung zu verbessern

Zwanzig Prozent mehr für ein Kilo Fleisch, das ist auch die Summe, die Landwirtschaftsminister Christian Schmidt für sein geplantes Tierwohllabel veranschlagt, dessen Umsetzung in den Händen der nächsten Regierung liegt. Es böte dem Tier in der ersten von drei Stufen neben etwas mehr Platz kaum eine spürbare Verbesserung. Landwirte können im Einzelfall Schweinen auch weiterhin die Schwänze abschneiden. "Es ist paradox, dass Deutschland aus Angst vor Kannibalismus das Recht bricht, anstatt die Haltung zu verbessern", sagt Angela Dinter von der Organisation Provieh. Die Tierschutzorganisation reichte 2009 Beschwerde bei der EU ein wegen des Schwanzabschneidens in Deutschland. Seither liefern sich die Parteien einen heftigen Briefwechsel.

Selbst Ralf Remmert hat manchmal Angst, dass in seinem Stall das Schwanzbeißen ausbricht. "Auch ich habe kein Patentrezept", sagt er. Aber bisher sei das große Blutbad ausgeblieben. Remmert öffnet die Tür zu seinem neuen Stall, den er vor einem halben Jahr in Betrieb genommen hat. Wenige Wochen alte Ferkel flitzen herum, ihre Ohren fliegen um ihre Köpfe. Neben einer Gemeinschaftsfläche in der Mitte des Raums hat jede Schweinefamilie seitlich einen eigenen Bereich, den die Tiere verlassen können, wann sie wollen. Futter gibt es für alle in einem Futtertrog in der Mitte.

"Schweine sind soziale Tiere"

In diesen Stall hat Remmert alle seine Ideen gesteckt, all seine Hoffnung. Er sei mit einem Stallbauer im Gespräch, sagt er und plane bereits das nächste Projekt. Ein Stall, in dem die ganze Schweinefamilie ein Leben lang zusammen bleibt. Es ist ein Konzept, bei dem die Geschwister bis ins Mastschweinalter hinein gemeinsam gemästet werden und die Muttersau immer in Sichtweite bleibt. "Ferkel trauern, wenn sie die Mutter verlassen müssen", sagt Remmert. Den Umzug müsse man sich aus der Perspektive der Tiere so vorstellen: Das Ferkel ist gerade mal fünf Wochen alt und muss sich allein in einer neuen Umgebung zurecht finden. Es ist gestresst, quiekt nach der Mutter, oft tagelang.

Ralf Remmert hebt ein Ferkel vom Boden auf. "Schweine sind soziale Tiere, die Haltung hat sich nur immer mehr von ihren den Bedürfnissen entfernt", sagt er. Das kleine Ferkel quiekt kurz, zappelt, liegt dann aber ruhig in seinem Arm und beobachtet den Besuch mit seinen wachen braunen Augen.

© SZ vom 24.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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