SZ-Serie: Vogelwuid:Ein Ei aus dem 3-D-Drucker für das leere Nest

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Das Bartgeier-Weibchen im Nürnberger Zoo hat auch dieses Jahr zwei Eier gelegt. Allerdings ist ausgerechnet heuer aus keinem von beiden ein Küken geschlüpft. Momentan brütet das Nürnberger Geierpaar daher über einem künstlichen Ei, bis anderswo ein passendes Ziehküken schlüpft. (Foto: Jörg Beckmann/Tiergarten Nürnberg)

Das Bartgeier-Brutpaar im Nürnberger Zoo hat keines seiner Eier durchgebracht. Nun soll es ein fremdes Küken für die Auswilderung großziehen - und bebrütet in der Zwischenzeit ein Kunststoffei.

Von Christian Sebald, Berchtesgaden/Nürnberg

Es sind aufreibende Tage für den Biologen Toni Wegscheider. Alle Genehmigungen für das Bartgeier-Auswilderungsprojekt des Landesbunds für Vogelschutz (LBV) im Nationalpark Berchtesgaden sind erteilt oder kurz vor dem Abschluss, das Geld für die nächsten drei Jahre ist bewilligt, auch die Logistik steht. Nur die Entscheidung, ob und wie viele junge Bartgeier dieses Jahr in einer Felsnische hoch oben an den Abstürzen des Klausbachtals ausgelassen werden sollen, ist noch nicht gefallen. So schwer es Wegscheider fallen mag, er muss abwarten. Frühestens in einer Woche wird er erfahren, wie das Projekt weitergeht. Auch wenn "wir alle zuversichtlich sind, dass wir wie geplant im Frühsommer starten können", wie Wegscheider sagt.

Bartgeier zählen zu den weltweit imposantesten Greifvögeln - schon wegen ihrer Spannweite von fast drei Metern. Wenn so ein Bartgeier hoch am Himmel durch die Luft segelt, ist das ein majestätischer Anblick. Ihren Namen haben die Aasfresser, die für andere Tiere und Menschen harmlos sind, von den markanten schwarzen Federn, die von ihrem hakenförmigen Schnabel nach unten abstehen. Einst waren Bartgeier weit verbreitet in den Alpen. Dann wurden sie dort ausgerottet. Der Grund war der Irrglaube, dass sie Schafen und sogar Kleinkindern nachstellen. Seit den Achtzigerjahren laufen sehr erfolgreiche Wiederansiedlungsprojekte - in den Hohen Tauern, im Mont-Blanc-Gebiet und am Ortler. Nun will der LBV Bartgeier im Nationalpark Berchtesgaden ansiedeln. Bis 2030 sollen dort jedes Jahr drei Jungvögel ausgewildert werden. Die SZ begleitet das Projekt.

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Im Tiergarten Nürnberg sind sie derweil optimistisch, dass ihr Bartgeier-Paar dieses Jahr doch noch einen Jungvogel aufziehen wird - als Ammenpaar. Die Nürnberger Bartgeier bekommen eigentlich regelmäßig selbst Nachwuchs. Deshalb sollte ursprünglich auch ein Jungvogel aus dem Tiergarten beim Auftakt des Wiederansiedlungsprojekts in den bayerischen Alpen dabei sein. Doch ausgerechnet in diesem Jahr ist die Brut der Nürnberger Bartgeier fehlgeschlagen. Zwar hat das Weibchen wie gewohnt zwei Eier gelegt. Und das Paar hat ausdauernd gebrütet. Aber dann ist ihm - wie das manchmal passiert - ein Ei zerbrochen. Und im zweiten Ei ist der Embryo kurz vor dem Schlupf abgestorben. Das war vor drei Wochen.

"Jetzt sollen unsere Bartgeier Stiefeltern für einen Jungvogel aus einem anderen Gelege werden", berichtet der Vizechef des Tiergartens, Jörg Beckmann. Und das funktioniert so: Als feststand, dass es dieses Jahr nichts wird mit Bartgeier-Brut im Tiergarten, haben Beckmann und seine Mitarbeiter das Ei mit dem abgestorbenen Embryo aus dem Horst entfernt und dem Paar ein Kunststoff-Ei untergeschoben, das ihren eigenen bis aufs Haar ähnelt. "Es stammt aus einem 3-D-Drucker", sagt Beckmann, "die beiden haben es sofort angenommen." Der Sinn der Unternehmung: Die beiden Bartgeier sollen die Brut so lange fortsetzen, bis in einem anderen Zoo ein Küken geschlüpft ist, für das ein Ammenpaar benötigt wird. Tritt der Fall ein, wird das Küken sofort nach Nürnberg transportiert, wo Tiergarten-Mitarbeiter in einem unbeobachteten Moment das Kunststoff-Ei gegen das Küken austauschen. "Das muss alles ganz schnell gehen", sagt Beckmann. "Aber in aller Regel klappt der Austausch sehr gut, das Ammenpaar nimmt das Küken sofort an und zieht es auf wie seinen eigenen Jungvogel."

Jörg Beckmann ist stellvertretender Direktor des Nürnberger Zoos. Er und seine Mitarbeiter haben dem brütenden Bartgeier-Paar ein täuschend echt gestaltetes Kunst-Ei aus dem 3-D-Drucker untergejubelt. (Foto: Monika Prell/Tiergarten Nürnberg)

Mit dem Aufwand setzen Zoos und Zuchtstationen den Kainismus der Bartgeier außer Kraft. Zwar legen die Weibchen immer zwei Eier. Aber das Küken, das als erstes schlüpft, tötet das zweite in jedem Fall - indem es das Tier aus dem Nest drängt, auf es einhackt oder ihm das Futter wegschnappt. Der obligate Kainismus hat einen einfachen Grund. "Die Bedingungen für die Aufzucht des Nachwuchses in freier Wildbahn sind so extrem, dass ein Bartgeierpaar mit zwei Küken komplett überfordert wäre", sagt der Biologe Wegscheider. "Mit dem Kainismus erhöht das ältere Küken seine Überlebenschancen deutlich." Den Kainismus haben sich auch die Bartgeier in Zoos und Zuchtstationen bewahrt - obwohl dort die Bedingungen für die Aufzucht der Küken ungleich komfortabler sind als in freier Wildbahn. Der Trick mit dem Ammenpaaren hat sich allerdings bewährt. Und es gibt etliche Bartgeier-Ansiedlungsprojekte in Europa, der Bedarf an Jungvögeln ist groß.

Für die Nürnberger Bartgeier wäre die Ammenrolle freilich die Premiere. Aber Beckmann ist zuversichtlich, dass sie sich darin gut machen werden. "Denn sie haben ja schon eigene Küken aufgezogen", sagt er. "Sie wissen, wie das geht." Außerdem sind die beiden offenbar völlig darauf fixiert, dieses Jahr Nachwuchs zu bekommen. "Sie haben nicht registriert, dass sie mit ihrer eigenen Brut schon drei Wochen überfällig sind", sagt Beckmann. "Sie brüten unermüdlich weiter."

© SZ vom 12.04.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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