So eine Enttäuschung. Im Tiergarten Nürnberg wird in dieser Brutsaison kein Bartgeier-Küken schlüpfen. Das hat jetzt der Vize-Direktor des Tiergartens, Jörg Beckmann, bekannt gegeben. "Ein Bartgeier-Ei ist bei der Brut zerbrochen", sagt Beckmann, "das andere war zwar befruchtet, aber der Embryo ist vor dem Schlupf abgestorben." Dabei hatten sie im Tiergarten sehr gehofft, dass es dieses Jahr ein Erfolg wird mit der Brut.
Denn dieses Jahr startet der Landesbund für Vogelschutz (LBV) ein groß angelegtes Bartgeier-Wiederansiedlungsprojekt im Nationalpark Berchtesgaden. Nach den ursprünglichen Plänen sollte einer der drei Jungvögel, die dort Ende Mai, Anfang Juni ausgewildert werden sollen, aus dem Tiergarten Nürnberg stammen. Daraus wird nun nichts.
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Im Tiergarten tragen sie den Fehlschlag mit Fassung. "Das ist natürlich schade für das Auswilderungsprojekt", sagt Beckmann. "Aber es kommt immer wieder vor, dass sich eine Brut erst vielversprechend anlässt und dann doch nichts wird." Und zwar gar nicht so selten. Statistisch gesehen ist in freier Wildbahn nur jede zweite Bartgeier-Brut erfolgreich. Aber auch in Zoos und Zuchtstationen kommt es immer wieder vor, dass die Greifvögel die Brut vor der Zeit abbrechen, und - keiner weiß warum -, dass Eier unbefruchtet bleiben, oder dass Küken vor oder kurz nach dem Schlupf verenden. "So ist die Natur", sagt Beckmann. "Selbst wenn wir meinen, dass wir sie beherrschen, ist sie letzten Endes nicht kontrollierbar."
Bartgeier zählen zu den weltweit imposantesten Greifvögeln - schon wegen ihrer Spannweite von fast drei Metern. Ihren Namen haben die Aasfresser, die für Menschen und andere Tiere harmlos sind, von den markanten schwarzen Federn, die von ihrem hakenförmigen Schnabel nach unten abstehen. Einst waren Bartgeier weit verbreitet in den Alpen. Dann wurden sie alpenweit ausgerottet. Der Grund war der Irrglaube, dass sie Schafen und sogar Kleinkindern nachstellen. Seit den Achtzigerjahren laufen sehr erfolgreiche Wiederansiedlungsprojekte - in den Hohen Tauern, im Mont-Blanc-Gebiet und am Ortler. Nun will der LBV Bartgeier im Nationalpark Berchtesgaden ansiedeln. Bis 2030 sollen dort jedes Jahr drei Jungvögel ausgewildert werden. Die SZ begleitet das Projekt.
Anruf bei Alex Llopis Dell in Lleida. Die 140 000-Einwohner-Stadt liegt ungefähr 160 Kilometer südlich der Pyrenäen in der spanischen Provinz Katalonien. Llopis Dell, der dort eine Bartgeier-Zuchtstation leitet, ist der wohl renommierteste Experte in Europa für die Art und koordiniert das Europäische Erhaltungszuchtprogramm (EEP) für sie. Das EEP stellt die Jungvögel für alle Bartgeier-Auswilderungen in Europa zur Verfügung. Llopis Dell ist nicht nur der Mann, der den Überblick hat, wie viele Bartgeier-Küken heuer schon in den 40 Zoos und Zuchtstationen geschlüpft sind, die sich zu dem EEP zusammengeschlossen haben. Sondern er ist vor allem der Mann, der entscheiden wird, wo überall in diesem Frühsommer in Europa junge Bartgeier ausgewildert werden. Denn es will ja nicht nur der LBV bedacht werden. Sondern es laufen noch eine Reihe andere Ansiedlungsprojekte in den Alpen, aber zum Beispiel auch auf Korsika und in Spanien. Frage also an Llopis Dell: "Woher werden die drei jungen Bartgeier für Bayern kommen?"
"Wir haben von vorneherein gewusst, dass es kein Selbstläufer ist", sagt LBV-Chef Norbert Schäffer
Llopis Dell kann darauf noch nicht antworten. Er will noch nicht einmal sagen, ob der LBV überhaupt junge Bartgeier zur Auswilderung erhalten wird. "Denn die Brutsaison dauert noch bis Mitte April", sagt er am Telefon. Llopis Dell hat 14 Jahre lang in Wien gelebt, er spricht ein sehr gepflegtes Deutsch mit dezent wienerischer Färbung. "Erst Mitte April wissen wir definitiv, wie viele junge Bartgeier wir dieses Jahr für Auswilderungen haben."
So viel kann man aber schon sagen. Die aktuelle Brutsaison des EEP hat sich eher durchwachsen angelassen. Zwar haben in den beteiligten Zoos und Zuchtstationen 43 Bartgeier-Paare gebrütet oder tun das noch. Aber wie im Nürnberger Tiergarten sind auch andernorts Bruten gescheitert. Deshalb gibt es aktuell erst knapp 20 Bartgeier-Küken im EEP. "Damit haben wir unser Potenzial aber noch nicht erreicht", sagt Llopis Dell. "Denn eine Reihe Bruten dauern noch an. Es kommen sicher noch Küken dazu. Wir müssen einfach abwarten." Ein Grund für den bisher eher mäßigen Bruterfolg ist, dass einige Paare nur ein Ei gelegt haben statt wie gewöhnlich zwei. Außerdem hat das Netzwerk zwei erfahrene Zuchtpaare verloren.
Llopis Dell hat aber auch gute Nachrichten zu vermelden. So haben dieses Jahr sieben junge Bartgeier-Paare zum ersten Mal überhaupt Eier gelegt, bei anderen, die bisher immer erfolglos gebrütet haben, sind zum ersten Mal Küken geschlüpft. Beim LBV bleiben sie denn auch hoffnungsvoll, dass sie ihr Projekt Ende Mai, Anfang Juni mit drei Jungvögeln starten können. "Wir haben von vorneherein gewusst, dass es kein Selbstläufer ist", sagt Verbandschef Norbert Schäffer, "Aber wir sind ja nicht für einen Sprint angetreten, sondern für einen Marathon."
Und wie geht es im Nürnberger Tiergarten weiter? Der bleibt ein wichtiger Partner des LBV. Schon allein weil er die Zwischenstation für die Auswilderungen ist. Denn egal woher die Jungvögel für Bayern letztlich kommen werden, ihr erstes Ziel im Freistaat wird Nürnberg sein. Dort sollen sich die Tiere von den Strapazen des Transports erholen. Sie werden dort auch noch einmal durchgecheckt und beringt. Außerdem werden die drei Jungvögel, die sich bis dahin ja nicht kennen, im Tiergarten erstmals zusammengebracht, damit man sieht, ob sie sich vertragen.
Aber das ist es nicht alleine. Auch in Nürnberg geht die Bartgeier-Zucht weiter. Tiergarten-Vize Beckmann rechnet fest, dass sein Paar wieder brüten wird. "Und dann ist halt in der nächsten Auswilderungsrunde ein Vogel von uns dabei", sagt er, "oder in der übernächsten."