Fürther Straße in Nürnberg:Seismograf des Wandels

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Acht Meter breit, sechs Kilometer lang und schnurgerade ist die Chaussee, die Nürnberg und Fürth verbindet und die mal "Fürther Straße", mal "Nürnberger Straße" heißt. Das Foto entstand 1929. (Foto: Stadtarchiv Nürnberg)

Die Achse zwischen Nürnberg und Fürth steht sinnbildlich für die Entwicklung der Städte. Aus Maschinenhallen wurden Büros und Labore.

Von Claudia Henzler und Uwe Ritzer

München hat seine Leopoldstraße. Düsseldorf die Kö. Hamburg den Jungfernstieg. Berlin Unter den Linden. Jede Großstadt hat ihre ganz besondere Straße. Eine, mit der sich mehr verbindet als das ununterbrochene Hin und Her von Fahrzeugen und Menschen. Weil sie etwas von der Geschichte, der Kultur, dem Charakter, von Wohlstand, Selbstverständnis und Lebensgefühl der jeweiligen Stadt erzählt. Deshalb ist diese Straße der Straßen fast immer herausgeputzt. Hübsch möbliert mit eleganten Geschäften, Cafés oder Restaurants, Museen, Kirchen, einer Allee.

Die Fürther Straße in Nürnberg ist nicht wirklich schön. Sie lädt nicht zum Promenieren ein. Sie ist kein Prachtboulevard, sondern eine Verkehrsader. Sie verbindet Nürnberg mit der angewachsenen Nachbarstadt Fürth. Sie ist unprätentiös obwohl Schauplatz von Weltgeschichte. An ihr entlang fuhr die erste deutsche Eisenbahn. Und im Justizpalast Hausnummer 110 wurden die Kriegsverbrecher des Dritten Reiches abgeurteilt. Mehr als über alles andere erzählt die Straße jedoch vom Wandel.

Doch, auch sie kam einmal prachtvoller daher, als in der Blütezeit der Industrialisierung rechts und links großzügige Bürgerhäuser entstanden. Aber die Fabriken waren nicht weit. Diese Magistrale erinnert bis heute daran, dass in Nürnberg und Fürth einmal das industrielle Herz Süddeutschlands schlug. Und zwar bis in die jüngere Vergangenheit. Triumph baute hier Motorräder, Schuco Blechspielzeug, die AEG Waschmaschinen und Geschirrspüler. Quelle, zeitweise das größte Versandhaus Europas, verschickte von einem sandsteinfarbenen Koloss aus täglich Tausende Pakete in alle Himmelsrichtungen. Und Grundig war auch nicht weit.

Nürnberg und Fürth sind keine glamourösen Städte. Sie inszenieren sich nicht, sie sind einfach da, und wenn sie mit sich zufrieden sind, dann prahlen sie nicht damit. So ist das in einem Landstrich, in dem "ned schlecht" als Höchstform des Lobes gilt und selbst die Erfolgreichen von jeher den Pelzkragen protestantisch bescheiden lieber nach innen trugen.

Die Fürther Straße ist ein Spiegel dessen. Sie erzählt davon, wie nach dem Krieg Wohlstand mit harter Arbeit geschaffen wurde und wie die Handarbeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Osteuropas oder Asien verlagert wurde, weil die Menschen dort für viel niedrigere Löhne arbeiten, bis heute übrigens. Die Globalisierung hat der Fürther Straße schwere Schrammen verpasst.

Die letzten, großen Kämpfe an dieser Straße sind noch nicht lange her. Sie fanden im Stadtteil Muggenhof statt, kurz vor der Grenze zu Fürth. 2006 demonstrierten Arbeiter mitten im Winter wochenlang für das letzte AEG-Hausgerätewerk, das 2007 dann doch geschlossen wurde. Wieder zwei Jahre später erlebten fassungslose Quelle-Beschäftigte den Untergang eines Versandimperiums.

Die Zeit war hinweggerannt über diese Ikonen des deutschen Nachkriegswohlstands und als Folge drohte der Fürther Straße eine Ödnis wie nie in ihrer Geschichte. Doch es kam anders. Heute ist die Magistrale ein langgezogenes Symbol für den erneuten wirtschaftlichen Wandel. Was vor wenigen Jahren nicht vorstellbar zu sein schien, scheint zu glücken.

Mitunter verändern sich Städte, ohne dass es ihnen immer in Echtzeit bewusst ist. Nürnberg und Fürth sind solche Fälle. Die alten Industriestandorte sind erfolgreich dabei, sich neu zu erfinden. Sie haben sich, mit kräftiger Unterstützung der staatlichen Strukturpolitik, aber eben auch aus eigenem, kreativen Antrieb heraus, weiterentwickelt.

Nichts verkörpert das neue Nürnberg mehr als der Datev-IT-Campus. 1800 Software-Spezialisten arbeiten seit 2015 an der Fürther Straße 111 an Programmen für ein genossenschaftliches Unternehmen, das seinerseits den Strukturwandel in der Stadt verkörpert. Denn der Zuwachs an IT-Berufen ist in und um Nürnberg im bundesweiten Vergleich überdurchschnittlich. Der Dienstleistungssektor wächst. Und einher mit alledem wurde in den vergangenen Jahren in und um Nürnberg und Fürth ein dichtes Netz an Forschungseinrichtungen gewoben.

In den längst überflüssig gewordenen Industrieanlagen von einst haben Forscher Labore und Dienstleiter ihre Büros bezogen. Der wirtschaftliche Wandel ist allenthalben sichtbar. Und bald soll auch in die letzte große Ruine des Wirtschaftswunders Leben einziehen, wenn das denkmalgeschützte Quelle-Versandhaus zu einer riesigen Siedlung mit mehr als tausend Wohnungen umgewandelt wird, die wohl eher nicht für Einkommensschwache gedacht sind.

Auch das wird die Fürther Straße prägen. Ein Stück weiter östlich, im Stadtteil Gostenhof, kann man die Gentrifizierung schon sehen. Erst kamen die Straßencafés, dann stiegen die Mieten. Auch so gesehen erweist sich die Fürther Straße als zuverlässiger Seismograf des gesellschaftlichen Wandels.

Der Fürther Radiohändler Max Grundig baute 1947 am Pegnitzufer seine erste Fabrik. Später entstanden in Nürnberg noch größere, der Firmensitz aber blieb lange in Fürth. Erst 2001, zwei Jahre vor der Grundig-Insolvenz, wurde das Areal verkauft. Die neuen Besitzer ließen einige Gebäude abreißen und den Rest nach und nach modernisieren. Heute gibt es in der sogenannten Uferstadt etwa 2500 Arbeitsplätze auf 70 000 Quadratmetern Gewerbefläche und eine eigene Kita. Mieter sind zum Beispiel ein Institut der Uni Erlangen-Nürnberg, eine Versicherung und Computerspezialisten der Bundesagentur für Arbeit. "Wir haben jetzt zum ersten Mal Vollvermietung", sagt Elena Lünnemann von der Investa Asset Management GmbH, die das Gelände verwaltet. In der ehemaligen Direktionsvilla, die der Stadt gehört, befindet sich ein Rundfunkmuseum.

Es war einer der spektakulärsten Arbeitskämpfe der vergangenen Jahrzehnte in Deutschland. Und er entwickelte sich nicht von heute auf morgen. Sukzessive legte der schwedische Electrolux-Konzern 2005 dem damals ältesten Hausgerätewerk seiner deutschen Tochterfirma AEG in Nürnberg die Daumenschrauben an. Die Kosten müssten drastisch runter, vor allem fürs Personal, so die Forderung aus Stockholm. Doch alle Sparvorschläge nutzten nichts. Im Dezember 2005 beschloss Electrolux, das Werk Ende 2007 zu schließen und die Produktion von Waschmaschinen, Trocknern und Geschirrspülern ins billigere Osteuropa zu verlagern.

Kampflos aber wollten sich die 1700 Beschäftigten nicht ergeben. Sie riegelten das Werk ab und besetzten es. Sieben Wochen dauerte zu Jahresbeginn 2006 der Arbeitskampf, der europaweit Beachtung fand. Das Werk konnte nicht gerettet werden. Aber immerhin stand am Ende ein üppiger Sozialtarifvertrag mit großzügigen Abfindungen für die Betroffenen. Eine Frage blieb: Was tun mit dem Fabrikgelände?

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(Foto: Stadtarchiv Nürnberg)

Acht Meter breit, sechs Kilometer lang und schnurgerade ist die Chaussee, die Nürnberg und Fürth verbindet und die mal "Fürther Straße", mal "Nürnberger Straße" heißt. Als sie 1805 gebaut wurde, waren die beiden Städte noch durch Felder getrennt, heute würde man die Stadtgrenze glatt übersehen, wenn man nicht an der gleichnamigen U-Bahn-Haltestelle vorbei käme. Die Straße führt vom Plärrer, einem verkehrsumtosten Platz vor den Toren der Nürnberger Altstadt, bis zur Fürther Freiheit. Auf dieser Achse wurden, direkt neben der Straße, Deutschlands erste Eisenbahnschienen verlegt: Hier trat 1835 der Adler seine Jungfernfahrt an, später kam die Trambahn hinzu, sodass die Eisenbahn den Betrieb 1922 einstellte. Das Foto stammt von 1929.

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(Foto: Peter Roggenthin)

In den Achtzigerjahren verschwanden die Gleise zwischen Plärrer und dem Quelle-Versandhaus unter der Erde. Weil es damals schon den Frankenschnellweg gab, beschloss Nürnberg, an der Fürther Straße Fußgängerzonen einzurichten, wie auf diesem Bild zu sehen ist, und zwar versetzt. So werden Autofahrer gezwungen, auf der immer noch drei- bis vierspurigen Straße ein paar Kurven zu fahren. Die Straße dadurch zu beruhigen ist nicht wirklich gelungen, sie ist immer noch eine viel befahrene Verkehrsachse.

Oder anders formuliert: Wie verwandelt man ein 17 Hektar großes Industrieareal in einen modernen Büro- und Gewerbepark? Wie findet man allein für die 500 Meter lange Häuserzeile entlang der Fürther Straße Mieter? Die Leipziger Firma MIB Coloured Fields ist auf die "Revitalisierung von Industrieliegenschaften" spezialisiert. Sie kaufte 2007 das AEG-Gelände und ging strategisch vor: Erst mal nur die Hälfte entwickeln, und zwar das eigentliche Werksgelände an der Fürther Straße, in der die wertvolle Bausubstanz liegt - Verwaltungs- und Produktionsgebäude aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren.

So viel Fabrik-Ambiente wie möglich sollte erhalten werden, die alte Waschmaschinenförderbrücke etwa, die in 15 Metern Höhe das Areal überquert. Die Investoren erklärten den Industriecharakter zum Alleinstellungsmerkmal und rissen nur ein paar neuere Hallen ab.

Nach und nach wurden die Gebäude modernisiert, immer dann, wenn ein Mieter gefunden war. Bis dahin vermieteten sie die neuen Eigentümer günstig an Künstler. Die Kreativen sollten das Gelände beleben und so für künftige Mieter attraktiv machen. Die Rechnung ging auf. Elf Jahre nach dem Verkauf wurden auch für die letzten Gebäude auf dem Kern-Areal Mietverträge unterzeichnet. Anfang 2019 werden die Gebäude bezogen.

Der Freistaat hat dem Investor kräftig unter die Arme gegriffen: Einige universitäre Forschungseinrichtungen wurden dort untergebracht, außerdem ein Energieforschungszentrum. Der damalige Finanzminister Markus Söder hatte sich lange dafür eingesetzt, "Auf AEG" einen Hochschulcampus zu schaffen und Dutzende Lehrstühle von Erlangen nach Nürnberg zu verlegen. Die Verhandlungen scheiterten jedoch. Stattdessen soll Nürnberg nun eine eigene Uni an einem anderem Standort bekommen.

Größter Mieter war von Anfang an Electrolux, denn der Verkauf des Geländes war mit der Rückmietung von 20 000 Quadratmetern sanierter Büro- und Ladenfläche für die neue Deutschlandzentrale (500 Mitarbeiter) verbunden. Ein weiterer wichtiger Mieter ist Siemens. Und die Stadt Nürnberg hat die Kulturwerkstatt "Auf AEG" mit Räumen für Theater, Musik und Kunst gekauft und renoviert.

Der Nord-Teil des Areals mit Wohnblöcken aus den Dreißigerjahren und einer großen Logistikhalle ist noch ein Ort der Zwischennutzung. Die Häuser sind dort nicht saniert und werden von Künstlern, Handwerkern und Logistikern genutzt. Sie werden in ein paar Jahren ausziehen müssen. Dann soll dort ein edles Wohngebiet direkt am Pegnitzufer entstehen.

Zu den goldenen Zeiten des Versandhauses Quelle wurden von der Fürther Straße aus Tausende Pakete ins ganze Land verschickt, und das rund um die Uhr. 2009 ging das Unternehmen in Insolvenz, danach war ein kleiner Gebäudeteil vorübergehend an Künstler und Kreative vermietet, seit vergangenem Jahr steht es völlig leer. Zweimal in der Woche herrscht zumindest vor dem Gebäude mit der gelben Backsteinfassade geschäftiges Treiben, dann feilschen dort Flohmarkthändler und -kunden um die besten Preise.

Die Immobilie ist speziell: Ein Fünfzigerjahrebau mit bis zu 70 Meter tiefen Räumen, der die Ausmaße eines kleineren Flughafenterminals hat, mit 250 000 Quadratmetern Nutzfläche. Das entspricht 1800 durchschnittlichen Einfamilienhäusern. Ein portugiesischer Immobilienentwickler hatte den Bau 2015 gekauft und wusste dann offenbar nicht, was er damit anfangen sollte. Er hätte dort nämlich gerne ein großes Einkaufszentrums eröffnet, was die Stadt Nürnberg ausdrücklich nicht wollte. Nach jahrelangem Stillstand hat sich nun ein neuer Investor gefunden. Im Juli kündigte die Düsseldorfer Gerchgroup an, 700 Millionen Euro zu investieren. Sie will etwa 1000 Wohnungen in dem Komplex unterzubringen, dazu Büros und Einzelhandel sowie soziale Einrichtungen wie eine Kita. Damit könnte innerhalb des ehemaligen Versandhauses ein kleiner Stadtteil entstehen. Die Stadt zeigt sich begeistert von diesen Plänen und wartet auf den Bauantrag.

Den Mietvertrag mit den Kreativen, die ins ehemaligen Heizkraftwerk umgezogen sind, will die Gerchgroup verlängern. Auf dem benachbarten Parkplatz will die Stadt eine grüne Oase schaffen.

Am Stammsitz der traditionsreichen Triumph-Adler-Werke wurden 1896 zunächst Fahrräder, später auch Motorräder und dann Büromaschinen hergestellt. 1993 wurden die Werke geschlossen. Das 47 000 Quadratmeter große Firmenareal war die erste bedeutende Industriebrache an der Fürther Straße, die erfolgreich in einen Dienstleistungsstandort umgewandelt wurde. Der Nürnberger Immobilienunternehmer Gerd Schmelzer hat die Fabrikgebäude weitgehend erhalten, saniert und den Mieterwünschen angepasst. In Erinnerung an Triumph-Adler heißt das Gelände "Mittelstandszentrum TA". Es ist heute zwar frei zugänglich, aber die alte Pforte mit dem Triumph-Logo gibt es noch. Die Liste der Mieter ist lang und reicht vom Elektromarkt über Rechtsanwälte und ein Tai-Chi-Zentrum bis zur Probebühne des Staatstheaters.

Der Nürnberger Justizpalast ist mit 350 Metern Länge und seiner Fassade im Stil der Neorenaissance ein beeindruckender Bau. Weltbekannt ist er als Wiege des internationalen Völkerstrafrechts. Für die Stadt Nürnberg ist der Justizpalast ein Ort, der die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte erträglicher macht. Nürnberg war die Stadt der NS-Reichsparteitage und der Rassengesetze, aber eben auch die Stadt, in der die tragenden Figuren der nationalsozialistischen Diktatur am Ende des Zweiten Weltkriegs vor Gericht gestellt wurden.

Der Justizpalast wurde als Schauplatz der Prozesse ausgewählt, weil er in der amerikanischen Besatzungszone lag und über ein großes Gefängnis in direkter Nachbarschaft verfügte. Der Saal 600, in dem Hermann Göring, Rudolf Heß und Albert Speer auf der Anklagebank saßen, befindet sich in einem repräsentativen Nebengebäude und wird heute noch für Strafprozesse genutzt. Bald soll der geschichtsträchtige Saal aber ausschließlich als Gedenkort zur Verfügung stehen, im Westen des Justizpalastes wird gerade ein moderner Anbau errichtet, in den die Justiz umziehen wird, voraussichtlich Ende 2019. Dann wird das "Memorium Nürnberger Prozesse" mehr Platz bekommen. Dieses Museum muss seit seiner Eröffnung 2010 mit recht beengten Verhältnissen im Dachgeschoss auskommen und hat mehr als 90 000 Besucher im Jahr - die meisten aus dem Ausland.

Der Saal 600 sieht heute anders aus als während der Nürnberger Prozesse. Für den Hauptkriegsverbrecherprozess wurde er vorübergehend vergrößert, die Rückwand entfernt, zusätzliche Türen und Neonröhren eingebaut. Die starke Beleuchtung wurde gebraucht, um Filmaufnahmen zu ermöglichen. Sie ist auch der Grund, warum manche Angeklagte auf den alten Fotos Sonnenbrillen tragen.

In den Sechzigerjahren wurde der ursprüngliche Zustand des Saals wieder hergestellt. Dass er für die museale Nutzung wieder sein Nachkriegsaussehen erhält, wie vom damaligen Finanzminister Markus Söder vorgeschlagen, wurde schnell verworfen. Stattdessen sollen bald Multimediaprojektionen auf raumhohen, halbtransparenten Leinwänden eine virtuelle Zeitreise möglich machen.

"Jetzt laufen hier lauter Hipster rum"

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(Foto: privat)

Maria Diamanti, 34, ist seit 15 Jahren Stammgast im Café Aprico an der Fürther Straße 57: "Ich mag, dass die Gegend zwischen dem Plärrer und dem Justizpalast so lebendig ist. Man kann Menschen aus aller Welt treffen, hier ist eigentlich alles vertreten, auch sehr viele Griechen. Deshalb gibt es hier auch viele griechische Cafés. Allein hier sind drei direkt nebeneinander, gegenüber ist noch eines. Ich bin selbst in Griechenland geboren und mit fünf Jahren nach Deutschland gezogen. Das Café ist für mich wie ein zweites Wohnzimmer, hier komme ich auch gerne alleine her, wenn ich frei habe. Man trifft eigentlich immer jemanden. Der Stadtteil hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Früher haben sich viele Leute nachts kaum auf die Straße getraut, jetzt laufen hier lauter Hipster, Künstler und Veganer rum. Gostenhof ist ein In-Viertel geworden, dementsprechend steigen die Mieten. Eine Bekannte befürchtet schon, dass sie aus ihrer Wohnung rausgeekelt werden soll. Das ist sehr schade."

"Die U-Bahn hat alles verändert"

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(Foto: privat)

Ralph Dipping, 65, ist Inhaber eines Foto-Fachgeschäfts in einer Seitenstraße der Fürther Straße: "Ich habe den Laden seit 40 Jahren, früher waren AEG, Quelle und Grundig meine Kunden. Die haben oft Abzüge von Produktfotos gebraucht. Natürlich hat sich deren Schließung auf uns ausgewirkt. Ein viel gewaltigerer Einschnitt war aus meiner Sicht aber der U-Bahn-Bau. Dadurch hat sich die Fürther Straße stark verändert. Als hier noch die Trambahn fuhr, gab es jede Menge Geschäfte - Fahrradläden, Möbelgeschäfte, Handwerksbetriebe, Bäckereien. Die Leute sind auch mal ausgestiegen, wenn sie von der Arbeit kamen, jetzt brausen sie unten durch und nehmen nichts mehr wahr. Wir konnten uns halten, weil wir als Fotolabor eine Nische besetzen und unsere Kunden aus ganz Mittelfranken kommen. Inzwischen haben wir hier wahrscheinlich die größte Café-Dichte der Welt, dagegen will ich gar nichts sagen. Was mich stört, sind die vielen Sportsbars und Spielhallen.

"Kultur braucht Räume"

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(Foto: privat)

Florian Böck, 35, arbeitet als selbständiger Motion-Designer im ehemaligen Quelle-Heizhaus: "Ich mache digitale Animationen, wie man sie auf Webseiten sieht, oder im Display von Autos. Meine Kunden sind international, ich könnte überall arbeiten, weil ich nur einen Rechner brauche. Aber mir ist der Austausch mit anderen sehr wichtig und hier im Heizhaus besteht ein tolles Netzwerk. Wir helfen uns gegenseitig und machen auch gemeinsame Projekte wie Konzerte und Ausstellungen. Es gibt im Heizhaus zum Beispiel eine Holzwerkstatt, ein Modelabel, eine Videoproduktionsfirma und Proberäume für Bands. Das Heizhaus ist etwas ganz Authentisches, es ist ja aus dem Quellkollektiv entstanden - ich war damals einer der ersten Mieter im leeren Versandhaus. Wenn das Gelände nun entwickelt wird, wünsche ich mir, dass sich die Stadt für uns Kreative einsetzt und Möglichkeitsräume wie das Heizhaus aktiv fördert. Eine lebenswerte Stadt braucht Kultur und Kultur braucht Räume."

"Quelle war wie eine Familie"

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(Foto: privat)

Christine Kerner, 49, hat 25 Jahre lang beim Versandhaus Quelle gearbeitet: "Die Frauen in unserer Familie waren eigentlich immer bei der Firma Quelle. Ich habe schon meine Ausbildung zur Bürokauffrau bei Quelle gemacht und danach als Disponentin im Einkauf gearbeitet, vor allem für Damenoberbekleidung. Mein Arbeitsplatz war in der Hauptverwaltung in Fürth - da, wo Frau Schickedanz saß. Die Firma war wie eine große Familie. Heute habe ich immer noch Kontakt zu ehemaligen Kollegen, man trifft sich ab und zu. Für manche war die Insolvenz wirklich tragisch, vor allem für die über Fünfzig. Sie hatten es besonders schwer, etwas Adäquates zu finden, und haben das oft als gesellschaftlichen Abstieg empfunden. Ich selbst habe den Sprung in die Selbständigkeit gewagt und eine Nudel-Manufaktur mit eigenem Laden aufgemacht, einen Ein-Frau-Betrieb. Das waren relativ große Investitionen für die Maschinen, aber jetzt gibt es meine Nudelspezialitäten schon seit 2011."

Die Datev ist eines der größten Softwarehäuser Deutschlands. Nur eben ein ganz spezielles, weshalb sich die schiere Größe und die Bedeutung des Nürnberger Unternehmens nicht jedem auf den ersten Blick erschließt. Am 14. Februar 1966 schlossen sich 65 Steuerbevollmächtigte aus dem Kammerbezirk Nürnberg zu einer Genossenschaft zusammen. Ihr gemeinsames Ziel war die effiziente und schnelle Datenverarbeitung.

Fünf Jahrzehnte später ist aus der Datev e. G. ein Unternehmen geworden, das von mehr als 40 200 Genossenschaftsmitgliedern getragen wird, fast 7500 Menschen beschäftigt und im Jahr knapp eine Milliarde Euro Umsatz erwirtschaftet. Und zwar mit spezieller Software und IT-Dienstleistungen, wie Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte sie in ihrer täglichen Arbeit brauchen. Jeder vierte Deutsche erhält seine ausgedruckte oder digitale Lohn- oder Gehaltsabrechnung über die Datev. Und sozusagen deren Gehirn ist seit 2015 weithin sichtbar an der Fürther Straße angesiedelt. Mehr als 100 Millionen Euro investierte die Datev in ihren IT-Campus gegenüber vom Justizpalast. 1800 Menschen arbeiten dort, vorwiegend Entwickler.

Die Bedeutung dessen für die Fürther Straße und den gesamten Strukturwandel Nürnbergs fasste Oberbürgermeister Ulrich Maly bei der Einweihung zusammen: Die Datev verleihe dem "durchaus ehrgeizigen Unterfangen", eine sechs Kilometer lange Straße mit Wissenschaft und wissensintensiven Unternehmen zu säumen, einen ungeheuren Schub. "Der IT-Campus macht die Zukunftsvision der Technologiemeile auf einen Schlag für jedermann sichtbar."

Bei seiner Einweihung 1952 war das Hochhaus am Plärrer mit 56 Metern das höchste Gebäude Bayerns und ein Symbol des Wiederaufbaus. Der 15-stöckige Skelettbau aus Stahlbeton gilt als Klassiker der Nachkriegsmoderne und steht seit 1988 unter Denkmalschutz. Geplant wurde er von Wilhelm Schlegtendal (1906-1994), der in der NS-Zeit Nürnbergs Stadtbaurat war und seine Karriere danach als Architekt fortsetzte. Das Haus wurde für die Stadtwerke errichtet, inzwischen gehört es der Aktiengesellschaft "N-Ergie", an der Nürnberg zu 60 Prozent beteiligt ist. Seit 2o16 steht es leer, weil das Gebäude nach mehr als fünf Jahrzehnten kernsaniert werden muss. Mindestens 50 Millionen Euro werden die Arbeiten kosten. Voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte 2019 sollen die etwa 550 Mitarbeiter ihre Arbeitsplätze wieder beziehen können.

© SZ vom 14.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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