Am Abend der bayerischen Landtagswahl 2008 gab es einen denkwürdigen Auftritt von Wilfried Scharnagl. Bei Anne Will saß der große alte Mann der CSU und ließ seinen Emotionen freien Lauf. Über die Jahrzehnte währende absolute Mehrheit seiner Partei in Bayern, die nun weg war. Über die falsche Raucher-Politik der CSU. Über die "abstruse Zwei-Drittel-Mehrheit", die fünf Jahre vorher der damalige Parteichef und Ministerpräsident Edmund Stoiber zu tiefgreifenden Umbauarbeiten im Freistaat genutzt hatte. Ja, sagte Scharnagl, es sei wahr, um die Partei sei es derzeit nicht gut bestellt. Eine "gewaltige Kraftanstrengung" sei vonnöten, damit sich seine "schwächelnde" CSU aufrappelt.
Nun, ein Jahr vor der nächsten Landtagswahl, liefert Scharnagl seinen Beitrag für diese Kraftanstrengung in Buchform (erschienen im Quadriga-Verlag). "Bayern kann es auch allein", behauptet der 73-jährige CSU-Veteran und langjährige Chefredakteur des Parteiorgans Bayernkurier. Er meint damit wohl vor allem auch: Die CSU kann es auch allein. Das Regieren im Freistaat.
Scharnagl legt ein Plädoyer vor für eine Loslösung des Freistaats von der Bundesrepublik und der Europäischen Union. Er zeichnet die Historie der vergangenen 150 Jahre nach, zeigt, wie das Königreich Bayern seine volle Souveränität verlor. Zuerst an den Kaiser in Berlin, zuletzt zugunsten des deutschen Bundesstaates. Mit Stolz betont er immer wieder, dass sich Bayern eine Verfassung für einen "Vollstaat" gegeben habe, über die das Volk abstimmen konnte (im Gegensatz zum Grundgesetz) und die schon seit 1946 existiert (länger als das Grundgesetz). Dazu die prosperierende Wirtschaft, der Fleiß, das Selbstbewusstsein der Bayern. Scharnagl stimmt eine Ode an die Heimat an.
Streitthemen lässt der ausgebuffte Politprofi beiseite, Scharnagl hütet sich davor, den Sarrazin zu machen. Manches Unangenehme streift er am Rande - und spült es weich, wie das Thema Integration. Dank einer "klaren Orientierungslinie" werde innerbajuwarisch die "Herausforderung der Integration weit besser bestanden als in anderen Ländern".
Scharnagl gibt in diesem Fall den großen Umarmer. Dumpfe Xenophobie, früher der CSU nicht gerade fremd, findet sich in seinem Werk nicht, auch nicht zwischen den Zeilen. Seine Botschaft lautet: Der Freistaat ist das gelobte Land, in dem alle leben wollen. Und dürfen, so sie sich schön brav der bajuwarischen Leitkultur anpassen.
Zwischen Lobpreis und Pranger
Als Scharnagl in der Gegenwart angekommen ist, kommt zur Lobpreisung das Anpragern. Bayern sei ein "besonderes Opfer einer doppelten Transferunion": einmal landen bayerische Milliarden im Länderfinanzausgleich ("Skandal", "ein Raubzug") für klamme Bundesländer; einmal geht das Geld nach Europa, zugunsten von Staaten wie Griechenland ("unerträglich"). Für den Euro gelte: "Hier wächst nicht zusammen, was nicht zusammengehört." Eine mit der Fiskalunion einhergehende Harmonisierung der Steuern nennt er "brutale Gleichmacherei".
Es sind Sätze, die eher an österreichische Rechtspopulisten erinnern. Auch seine Quintessenz erinnert an die Parolen von Rechtsaußen: "Undenkbares darf oder muss gedacht werden." Er meint das, was nach 1949 vor allem die Bayernpartei, nicht aber die CSU forderte: Bayerns Loslösung. Von Deutschland. Von Europa. Denn da bliebe das Geld in Bayern.
Warum veröffentlicht Scharnagl so ein Buch? Und warum macht er es jetzt? Das Timing liegt wohl an der Hoffnung, dass das innenpolitische Sommerloch einer solchen Publikation mehr Wucht verleiht. Betreibt der Mann ernsthaft die Abspaltung Bayerns? Wohl kaum - auch wenn auf dem Buchtitel ein weiß-blauer Schlagbaum zu sehen ist. Ernsthaft forciert der gewiefte Stratege den Separatismus nicht, wohl aber den CSU-Wahlkampf 2013. Im September des kommenden Jahres stimmen die Bayern gleich doppelt ab: über die Machtverhältnisse in Bayern und im Bund.
Für die Regionalpartei CSU hat der Urnengang für den Landtag Vorrang. Vier Jahre sind seit der aus CSU-Sicht katastrophalen Wahl 2008 vergangen. Für die einstige Quasi-Staatspartei hat sich die Situation nicht wesentlich gebessert: CSU-Chef Horst Seehofer hat der Partei keinen entscheidenden Schub über die 50-Prozent-Marke beschert, auch die in Berlin regierenden Bundesminister nicht. Umfragen sahen die CSU zuletzt bei 46 bis 47 Prozent, bei der letzten Wahl kam sie auf 43,4 Prozent. Kommt der SPD-Herausforderer Christian Ude erst mal in Fahrt, dürfte es eng werden.
Welches Thema taugt für den Wahlkampf?
Seehofer und seine Mitstreiter halten es für höchste Zeit, etwas zu tun. Nur mit welchem Thema? Das Betreuungsgeld droht zum Rohrkrepierer zu werden. Bei der Atomkraft und der Wehrpflicht gibt es nichts mehr zu verteidigen. Die Gleichstellung der Homo-Ehe befürworten inzwischen auch mehrere CSU-Funktionäre. Und mit Angst vor Zuwanderung gewinnt man auch keine Wahl mehr.
Bleibt ein Thema: Bayern. Es ist ein Rückgriff auf das Selbstverständnis, das einst Franz Josef Strauß seinen Christsozialen impfte: Die CSU ist Bayern ist die CSU. Wer stets sein Ohr hatte und für ihn Strategien entwickelte, war Wilfried Scharnagl. "Er schreibt, was ich denke, und ich denke, was Scharnagl schreibt", soll FJS über seinen treuen Adlatus gesagt haben. Scharnagl drängte nicht in die erste Reihe, er wurde kein Minister oder Generalsekretär, sondern blieb im Hintergrund: Lange Jahre fungierte er beim Bayernkurier, dazu zog er Fäden in internen Sitzungen als assoziiertes Mitglied oberster Parteigremien. Das tut Scharnagl übrigens immer noch.
Dass Scharnagl nun solch ein weiß-blaues Plädoyer publiziert, mutet wie Arbeitsteilung an. Während Generalsekretär Alexander Dobrindt und Bayerns Finanzminister Markus Söder populistisch gegen die Euro-Rettungspolitik für Griechenland holzen, liefert die graue Eminenz mit seinem Buch das Mia-san-Mia-Gefühl, welches bajuwarischen Patriotismus und das Maulen über die "Preußen" und Brüssel einschließt. Parteichef Horst Seehofer wirkt dagegen umso seriöser: Der Ministerpräsident droht immerhin nur der FDP.
Darum geht es Scharnagl: Dass die CSU mit Seehofer weiterhin den Ministerpräsidenten stellt. Das blühende Bayern, das darf für die Bürger ruhig Seehofers Werk sein - und Scharnagl liefert seinen Beitrag. Sein Mix aus Geschichte, Zahlen und Sätzen, die ans Gemüt gehen, sollen den Leser einnehmen. Scharnagl streut beiläufig immer wieder Passagen ein, in denen er dem CSU-Chef attestiert, gut zu amtieren.
Unverhohlen wird Misstrauen geschürt
Scharnagls Erzählung von der Unterordnung der Bayern unter Berlin beginnt bei Otto von Bismarck und endet bei Angela Merkel. Gerade die Kanzlerin muss sich in Acht nehmen, wenn sich Scharnagls Lesart in der CSU durchsetzt. Denn dann macht die bayerische Schwesterpartei ungeniert Wahlkampf auf Kosten der CDU und ihrer Vorsitzenden.
Mehrfach erwähnt er die Kanzlerin - ausnahmslos in negativem Kontext. Ihr oft wiederholter Satz "Scheitert der Euro, scheitert Europa" schrumpfe die große Idee von der Einheit eines Kontinents zu einer Währungsfrage, schimpft er, und: "Die Konsequenz daraus ist die ökonomische Gleichschaltung." Oder, so formuliert er etwas später, Merkels Diktum beziehe sich nur auf ein "bestimmtes Konzept, das darin besteht, ein zentralistisches Europa erzwingen und Ungleiches gleichmachen zu wollen". Unverhohlen schürt Scharnagl Misstrauen.
Neben der Heimatliebe durchzieht diese Anti-Haltung zu Berlin das ganze Opus. Was früher Kaiser Wilhelm II. war, ist für Scharnagl heute Angela Merkel aus der Uckermark. Es ist das leise gewordene Stammtisch-Gemaule über die "Saupreißn", das Scharnagl kultivieren will.
Noch interessanter ist, wer im Buch nicht auftaucht: weder Helmut Kohl, noch Theo Waigel, der eine immerhin Kanzler der Einheit, der andere langjähriger CSU-Chef und Vater des Euro-Stabilitätspakts. Warum das so ist, liegt nahe: Sie passten Scharnagl nicht ins Konzept. Beide waren bereit, deutsche Kompetenzen zugunsten europäischer Institutionen abzugeben.
Wenn Scharnagl über die bayerische Unabhängigkeit schwadroniert, sollte er sich einmal mit eingefleischten Franken zusammensetzen. Die können ihm erzählen, wie es ist, wenn eine traditionsbewusste Region durch Machtmauschelei von seinem Nachbarn geschluckt wird. Scharnagl verpasst der Einverleibung Frankens, die 1806 dank Napoleon zustande gekommen war, das Rubrum "geschichtlich gewachsen".
Dunkelroter Preuße als Vater des Freistaats
Scharnagls Schönfärberei sind in den zeitgeschichtlichen Teilen wesentliche Aspekte zum Opfer gefallen. So erwähnt er die zahlreichen Polit-Affären seines Freundes Strauß mit keiner Silbe. Scharnagl beklagt die Gleichschaltung nach der Machtergreifung der Nazis 1933. Was er verschweigt: Adolf Hitlers Karriere begann in München, der "Hauptstadt der Bewegung". Im berühmten Hofbräuhaus rief Hitler die NSDAP aus, an der Münchner Feldherrnhalle endete sein Putschversuch. Es war die bayerische Justiz, die den Österreicher anschließend mit einer milden Strafe belegte und nicht des Landes verwies. Die Weltgeschichte wäre anders verlaufen.
Dass Scharnagl sich nicht um Objektivität bemüht hat, sondern mit seinem Buch reine Polit-PR betreibt, beweist auch sein Umgang mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner. Der war in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich: Eisner war Jude, Journalist und beendete die Monarchie in Bayern.
Scharnagl erwähnt Eisner nur im Zusammenhang mit der Installation der Räterepublik, die er dreist "Machtergreifung" nennt - ein Terminus, der in direkter Verbindung mit Hitlers Berufung zum Reichskanzler steht. Zu Eisners Ermordung durch einen bajuwarischen Adeligen schweigt Scharnagl ebenso wie zum Fakt, dass der in Berlin geborene Sozialist am 8. November 1918 in München den "Freistaat Bayern" ausgerufen hat.
Ein dunkelroter Preuße als Vater des Freistaats? So viel Wahrheit will Scharnagl seiner CSU lieber doch nicht zumuten.