Als am 21. Juli 2014 eine E-Mail vom Oberlandesgericht München (OLG) in ihrem Posteingang auftaucht, ist Aqilah Sandhu für einen kurzen Moment sprachlos. In Sekundenschnelle ruft Sandhu ihre innere Gesetzessammlung ab. Sie findet nichts, keine Rechtsgrundlage, keine Rechtfertigung. Sandhu denkt an ein Missverständnis. Sie will keine Probleme machen. Sie will nur eins: eine Ausbildung wie alle anderen.
Sandhu blickt noch einmal auf die Mail am Bildschirm. Das OLG schreibt, dass sie nur unter einer Auflage in den juristischen Vorbereitungsdienst aufgenommen wird. Während ihres Referendariats dürfe sie keine Zeugen vernehmen, keine richterlichen oder staatsanwaltschaftlichen Aufgaben übernehmen. Acht Monate Zuschauerbank statt Richtertisch. Die Begründung: "Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale" können das "Vertrauen in die religiös-weltanschauliche Neutralität der Dienstausübung beeinträchtigen". Aqilah Sandhu ist Muslimin. Auf ihrem Bewerbungsbild trägt sie ein Kopftuch.
Heute, 2016, sitzt Aqilah Sandhu, 25, in einem Café in ihrer Heimatstadt Augsburg. Sie schwäbelt, wenn sie spricht, rollt das "R" im Wort "Religion". Christentum, Islam, ihre Familie vereint beide Welten. Ihr Vater stammt aus Pakistan. Die Eltern ihrer deutschen Mutter waren katholische Oberstudienräte, ihr Großonkel Pfarrer, ihre Großtante Nonne. Ausgerechnet sie werde nun auf ihr Kopftuch reduziert, sagt Sandhu.
In Deutschland gibt es kein Gesetz, das Rechtsreferendaren oder Berufsrichterinnen ein Kopftuch verbietet. "Das Thema ist ein Politikum, das Oberlandesgericht nutzt seine Machtfülle gegen die Referendarin aus", sagt Johann Bader, Vorsitzender Richter des Verwaltungsgerichts Stuttgart. Er hat sich in mehreren wissenschaftlichen Aufsätzen mit dem Thema Kopftuch und Staatsdienst beschäftigt. "Wenn sich niemand wehrt, wird immer Unrecht geschehen."
Sandhu wehrt sich. Mit 24 Jahren beschließt sie, den Freistaat Bayern zu verklagen. Denn das deutsche Rechtssystem, das findet sie einmalig. "Es gibt wenige Länder, die ein so geniales Recht haben wie wir in Deutschland." Sie spricht von einem "ausdifferenzierten Rechtsschutzsystem", einer "partizipativen Demokratie". Ständig trägt sie eine Miniausgabe des Schönfelder mit sich, einer rot eingebundenen Gesetzessammlung.
Sie identifiziert sich mit den Gesetzen, den Grundrechten. Gerade deshalb kann sie die Mail des Oberlandesgerichts nicht akzeptieren. Es geht ihr ums Prinzip, um Rechtsstaatlichkeit, um Gleichberechtigung. Sie möchte einen gerechten und gleichen Zugang zur staatlichen Ausbildung, wie alle anderen. Ob Richterin, Staatsanwältin oder eine Karriere in der Wissenschaft - sie möchte von allen Optionen träumen dürfen.
"Die Mehrheit der Gesellschaft ist noch nicht bereit für eine Richterin mit Kopftuch, aber die Justiz muss sich damit anfreunden", sagt Bader. Der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde sieht das ähnlich. Das Bundesverfassungsgericht habe sich 2015 klar gegen ein generelles Kopftuchverbot im Staatsdienst ausgesprochen. "Nur bei konkreter Gefährdung darf die Bekenntnisfreiheit eingeschränkt werden", sagt Böckenförde. Eine abstrakte Gefahr - die Beeinträchtigung der Neutralität etwa - sieht er nicht.
Wie das Oberlandesgericht argumentiert
Das OLG München beruft sich anfangs auf eine Dienstanweisung des Justizministeriums von 2008. Damals wurde die Auflage erstmals einer Muslimin erteilt. Grund dafür sind unter anderem die Einstellungsvoraussetzungen in der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen. Dort heißt es, die Aufnahme in den Vorbereitungsdienst könne Bewerbern versagt werden, wenn diese für den Vorbereitungsdienst als ungeeignet erscheinen.
Aqilah Sandhu fühlt sich diskriminiert. Von Seiten des Oberlandesgerichts heißt es, Sandhu müsse "gegebenenfalls" gegen die Auflage im Einstellungsbescheid gerichtlich vorgehen. Auf Nachfrage hat die zuständige Richterin des Oberlandesgerichts gesagt, sie könne sich aufgrund des laufenden Verfahrens nicht zu dem Fall äußern.
Dass ihre Religion ein Hindernis für ihre Neutralität sei, sieht Sandhu nicht. "Für mich ist Religion etwas Positives, die Quelle meiner Lebenskraft." Ihre Religion bestärke sie darin, nach der Wahrheit zu suchen und die Gesetze des Landes zu achten. Was hat für sie Priorität, ihre Religion oder das Grundgesetz? Sie lacht. Diese Frage hört sie nicht zum ersten Mal. "Da sag' ich immer: Es ist gelebte grundgesetzlich gewährte Freiheit, den Islam zu leben. Muslimischer Alltag bedeutet zu leben, zu fasten, zu beten, aber alle denken immer sofort ans Strafrecht."
Ein Staat müsse die Gesellschaft widerspiegeln, immerhin seien Muslime Bürger wie alle anderen auch, sagt Sandhu. Das Kopftuch für den Beruf abnehmen? "Ich denke auch ans Jenseits, und wenn ich meine Religion verleugne - das könnte ich nicht. Und ich finde es respektlos, wenn man das von mir verlangt - vor allem, wenn es rechtswidrig ist."
Dass nicht alle Menschen ihrer Meinung sind, weiß Sandhu. Ihr ist es aber wichtig, sachlich zu argumentieren, sie mag keine Scheindebatten, keine Polemik. Sie nennt es "Getöse". "Man wird permanent herausgefordert, sein Denken zu überdenken", sagt Sandhu. Probleme mit dem Kopftuch hatte sie bislang noch nie. An der Uni hat sie vor Studenten unterrichtet. Im neunten Semester hatte sie ihren ersten Lehrauftrag in Rechtsenglisch. Sie wurde vorgeschlagen, von einer Dozentin. Danach war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin - mit Kopftuch.
Sandhu lässt sich nicht entmutigen, hat ihr Ziel fest im Blick: Richterin werden. Sie gibt alles, nimmt 2013 am "Jessup Moot Court" teil. Ein Wettbewerb, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung als "härtesten Test für angehende Juristen" bezeichnet. 600 Jurastudierende aus 90 Ländern vertreten zwei fiktive Staaten in einem Streit vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH).
Sandhu und ihre Kommilitonen nehmen sich für Übungszwecke gegenseitig auf Video auf: Sandhu tritt an das Rednerpult, begrüßt den fiktiven Präsidenten des IGH und trägt ihr Plädoyer vor. Ihr Blick ist ernst, ihre Gestik zurückhaltend, die Tischlampe wirft ein warmes Licht auf ihr Gesicht. In der Kategorie "best oralists" erreicht sie damals deutschlandweit den vierten Platz.
Anfang 2015 legt sie Widerspruch ein, schreibt, dass die Anweisung aus 2008 keine "Ermächtigungsgrundlage" für ein "solch gravierendes und einschränkendes Verbot" sei, da es sich um eine "innerdienstliche Weisung ohne Außenwirkung" handle. Das Bundesverfassungsgericht fordert für solche Entscheidungen ein Gesetz. Es braucht gewichtige Gründe, um die Religionsfreiheit einzuschränken.
In Bayern herrscht ein offenes Neutralitätsverständnis, in den Gerichtssälen hängt ein Kruzifix. "Man muss zwischen Symbolen an der Wand und Symbolen auf dem Kopf unterscheiden", sagt der Berliner Rechtsanwalt Frederik von Harbou, der Sandhu bei ihrer Klage berät. Durch das Kruzifix im Gerichtsaal zum Beispiel identifiziere sich der Staat mit einer Religion und verstoße damit gegen das Gebot der religiösen Neutralität des Staates. Das Tragen eines Kopftuchs zuzulassen hingegen stehe für das Bekenntnis zu einem "offenen", inklusiven Verständnis religiöser Neutralität. "Der freiheitliche Staat sollte den Ausdruck verschiedener Lebensentwürfe auch seiner Bediensteten tolerieren", sagt von Harbou.
Isabella Risini ist Volljuristin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bochum und kennt Aqilah Sandhu seit 2012. Gemeinsam arbeiteten sie an einem wissenschaftlichen Band. "Frau Sandhus Erstes Staatsexamen ist besser als das von Edmund Stoiber. In allem, was sie tut, ist sie wahnsinnig verbindlich", sagt sie. An der Universität unterrichtete Sandhu Studierende, danach war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin.
"So fühlt es sich an, gebremst zu werden"
Die Anfangszeit ihres Referendariats beschreibt Aqilah Sandhu als innere Zerreißprobe. Sie darf keine Plädoyers halten, keine Zeugen vernehmen. "So fühlt es sich an, gebremst zu werden", sagt sie, "zu wissen, dass man es kann, aber nicht darf." Ein Anwalt wunderte sich einmal, warum sie als Referendarin auf der Zuschauerbank sitzt. Eine Richterin sagte zu ihr: "Ich habe gehört, Sie dürfen fast nichts machen, sonst ist Ihr Referendariat zu Ende." Wegen solcher Momente hat Sandhu sich entschieden, auf eigene Kosten zu klagen. "Ich wollte von unabhängiger Stelle wissen: Ist das rechtmäßig?"
Mitte April 2015 erhält sie ein Schreiben vom OLG. Statt einer Antwort auf ihre Klage kommt eine Fristverlängerung von zwei Monaten. Sechs Wochen später endet ihre letzte Justizstation. "Bis dato gab es kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung", sagt Sandhu. Im Juni 2015 wird die Auflage aufgehoben. Sie sei nach Beendigung der Justizstation "nicht mehr erforderlich".
Wenige Tage später erhält Sandhu ein zweites Schreiben. Es werde angeregt, den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt zu erklären. Doch Sandhu geht es um mehr: Wird ihr der Staatsdienst verwehrt bleiben? Egal, wie gut sie ist? "Da der Staat nach Leistung einstellt, müssten ihr die Türen offen stehen", sagt Isabella Risini.
Sandhu will nicht aufgeben, formuliert die Klage in eineinhalb Stunden in eine "Fortsetzungsfeststellungsklage" um. Die Streitfrage seitdem: Besteht noch ein Feststellungsinteresse? Da die Auflage aufgehoben wurde, muss geklärt werden, ob die Einschränkungen in ihrem Vorbereitungsdienst rechtmäßig waren.
Am Donnerstag wird darüber in Augsburg verhandelt - Sandhu befindet sich mitten im Zweiten Staatsexamen, die Prüfungen haben bereits begonnen. "Bin ich geeignet?", fragt sie sich manchmal. "Und wenn nicht, liegt das dann nur daran, was ich auf dem Kopf habe?"
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels wurde in Überschrift und Titel der Eindruck vermittelt, Frau Sandhu wolle Richterin werden und fühle sich dabei diskriminiert. Tatsächlich geht es ihr bei ihrer Klage ausschließlich um den gerechten und gleichen Zugang zur staatlichen Ausbildung für Juristen.