Bayern:Der schnelle Fall der Ministerin Kiechle

Vereidigung des bayerischen Kabinett, hier von Marion Kiechle

Erst im März war Marion Kiechle als bayerische Wissenschaftsministerin vereidigt worden.

(Foto: dpa)

Die Ärztin war Markus Söders Favoritin im Kabinett, doch ihre Karriere endete nach sieben Monaten. Ein Lehrstück über Quereinsteiger in der Politik.

Von Roman Deininger und Wolfgang Wittl

Es gibt zwei Erinnerungen an die erste Begegnung von Marion Kiechle und Markus Söder. Söder sagt, er habe Kiechle bei einem "Vortrag" kennengelernt. Kiechle ist sich ziemlich sicher, dass es der Münchner CSU-Ball im Januar 2018 war. Der Sitzplan weist ihr den Stuhl neben Söder zu, da ist er noch bayerischer Finanzminister. Diesen Sitzplan, heißt es, habe der Münchner CSU-Chef persönlich gemacht: Ludwig Spaenle - der Wissenschaftsminister, den der Ministerpräsident Söder knapp zwei Monate später aus dem Kabinett wirft, um Platz zu schaffen für seinen neuen Star, Marion Kiechle.

Kiechle, damals 57, ist die Direktorin der Frauenklinik der Technischen Universität München (TUM), einst war sie die erste Frau auf einem Lehrstuhl für Gynäkologie in Deutschland. Der Wechsel in die Politik sei für sie eine "Lebensentscheidung", sagt sie, als sie am 21. März im Landtag vereidigt wird. Ihr sei nicht bange: Eine "Top-Management-Position" habe sie ja schon als Klinikchefin ausgefüllt. Und gehe es in der Medizin wie der Politik nicht darum, den Menschen zu helfen? Noch am Morgen vor der Vereidigung steht sie im OP-Saal.

Söder bekommt viel Beifall für ihre Berufung, auch in den Medien. Kiechle bringe Praxisnähe, wissenschaftliches Ansehen und auch ein wenig Glanz in sein Kabinett. Für Kiechle enttäuscht Söder sogar Spaenle, den Taufpaten seines Sohnes. Er ahnt, dass er mit der Personalie einen Coup landen wird. Aber hat er auch weiter gedacht?

Marion Kiechle: Bundesverdienstkreuz-Trägerin, Bestseller-Autorin ("Tag für Tag jünger"), Talkshow-Stammgast. Eine "brillante Ärztin", schwärmt ein Uni-Kollege, "kommunikationsfähig und total unkompliziert". Söder sagt: "Wenn ich so eine Expertise nicht nutzen würde, dann hätte ich zum Schaden Bayerns gehandelt." Und dennoch wird er Kiechle schon nach sieben Monaten wieder aus seinem Kabinett verabschieden - und nicht etwa, weil der Koalitionspartner ihr Ressort beansprucht hätte.

Was ist schief gelaufen? Ist da eine Seiteneinsteigerin an den Verkrustungen der Politik gescheitert? Oder doch an sich selbst? Kiechle bittet um Verständnis, dass sie nichts sagen will. Offen redet fast niemand, weder in der CSU noch im Wissenschaftsministerium. Den schnellen Fall der Ministerin Kiechle kann man nur so sorgfältig wie möglich aus vertraulichen Quellen in ihrem Umfeld rekonstruieren.

Quereinstiege in die Politik waren in Deutschland bislang selten Triumphzüge: Wirtschaftsmann Jost Stollmann (Schröder) und Steuerexperte Paul Kirchhof (Merkel) schafften es nicht mal vom Schatten- ins Bundeskabinett. Vor fünf Jahren trat die Journalistin Susanne Gaschke als Oberbürgermeisterin in Kiel zurück - wieder einmal endete die Hoffnung, ganz anders Politik zu machen, schmerzhaft unerfüllt.

Wenn jemand von außen in die Politik kommt, kollidieren oft Welten. Kiechle ist gerade erst vereidigt, da geht in der CSU und unter Journalisten ein alter Artikel aus einem Lifestyle-Magazin um. Kiechle spricht darin über ihren Perfektionsdrang, über das Weglasern von Haaren und das Wegspritzen von Äderchen. So was kennt man nicht von einer Ministerin. Und es hilft Kiechle nicht gerade, politisch sofort ernst genommen zu werden.

Das Publikum erfreut sich an der Originalität von Quereinsteigern, aber schon auch an den Problemen, die genau daraus erwachsen. Ende April ist Kiechle in der Talkshow "3 nach 9" zu Gast. Moderator Giovanni di Lorenzo berichtet von Söders Kreuzerlass und fragt Kiechle treuherzig: "Finden Sie das gut?" Nach mehreren Versuchen, nichts zu sagen, sagt Kiechle: "Ich finde das jetzt keine besonders kluge Idee." Im Studio in Bremen brandet Applaus auf, es ist ein Dank für Kiechles erfrischende Ehrlichkeit. Die erste Söder-SMS dürfte allerdings noch vor Ende der Sendung bei ihr eingeschlagen sein. Eine allzu eigene Meinung ist nicht das, was ein Kabinettschef von einem Kabinettsmitglied erwartet. Tags darauf bewirbt Kiechle sich um die Weltmeisterschaft im Zurückrudern.

Sie will die Mitarbeiter gewinnen, verschickt viele Lobesmails

In ihren ersten Amtswochen sagt Kiechle einmal: "Ich brauche noch etwas Tanzunterricht auf dem politischen Parkett." Aber lässt sie sich wirklich unterrichten?

Ein neuer Minister braucht Vertraute an seiner Seite, und ein Politikneuling braucht noch dazu kundige Sherpas, die ihn durchs Dickicht der Ministerialbürokratie führen. Kiechle will es mit dem Büroleiter ihres Vorgängers Spaenle probieren; das Experiment ist schon nach einer Woche zu Ende. Auch den langjährigen Sprecher des Hauses übernimmt sie zunächst; nach zwei Monaten trennt sie sich unvermittelt von ihm. Als neue Sprecherin holt sie eine Fernsehjournalistin, die sie schon länger kennt. Die Frau mag eine Vertraute sein. Aber ein Sherpa ist sie nicht.

Kiechle ist eine Fachfrau, ihr Fach ist indes sehr speziell. Sie saß zwar im Senat der TUM, doch sie hat nie Hochschulpolitik gemacht. Sie braucht nun also, was Ministeriale eine "Druckimpfung" nennen - in kurzer Zeit die Grundlagen lernen, viel zuhören, viel lesen. Die wichtigsten Akteure, die zentralen Begriffe. Welcher Landtagsausschuss ist für was zuständig? Welche Uni bietet welchen Studiengang? Ein Beamter sagt: "Man muss nicht viel wissen. Aber man muss viel wissen wollen." Aus einem Grund, den viele im Ministerium nicht verstehen, will Kiechle das offenbar nicht.

Kiechle hat sich in ihrer Karriere schon einmal gegen Widerstand durchgesetzt. Das war, als sie als Klinikdirektorin antrat. "Sie hatte es am Anfang schwer gegen das Old-Boys-Netzwerk. Man hat Stimmung gegen sie gemacht", erinnert sich TUM-Präsident Wolfgang Herrmann. "Aber sie hat sich durch Leistung durchgesetzt." Gelingt ihr das nun auch im Ministerium?

Bei ihrer Vorstellung sagt sie, sie wolle die Mitarbeiter gewinnen. Sie versucht das auch, verschickt viele Lobesmails. Aber sie kann, hört man, auch schnell schroff werden, wenn etwa die Beschaffung eines neuen Computers zu lange dauert. "Sie hat ein unanfechtbares Selbstbewusstsein", sagt jemand, der sie aus der Nähe erlebt. "Sie verdeckt Unsicherheit mit Härte, sie will keine Schwäche zugeben." Dabei sei genau das der Schlüssel zum Erfolg in einem Ministeramt: "Die Themen sind so vielfältig, die kann kein Minister kennen. Er muss sich von seinen Mitarbeitern an die Hand nehmen lassen." Kiechle, sagen auch andere Beamte, bereite sich offenbar nicht tief genug auf Termine vor - und wisse dann halt nicht, dass Coburg eine Hochschule habe oder Neo Rauch ein Maler sei.

Kiechle spricht gern frei bei öffentlichen Auftritten, das ist sie aus ihrem alten Job so gewohnt. Bei medizinischen Themen kann sie das gewiss auch hervorragend. Bei politischen Themen, sagen Leute, die es gut mir ihr meinen, wäre es sicherer, wenn sie sich erst mal an die Redenvorlagen ihrer Beamten halten würde. Aber wenn sie das tut, gibt es immer auch welche, die ihre rhetorische Steife beklagen.

Als die CSU ihre Liste für die Landtagswahl bestimmte, war Kiechle nicht mal eingeladen

Politik ist ein Handwerk, das man lernen muss, das geht nicht in wenigen Wochen. Ständig fällt Kiechle auf, weil sie rührend unbeleckt ist von politischer Konvention. Einmal beklatscht sie im Landtag begeistert die Rede eines SPD-Abgeordneten - zur Verstörung ihrer CSU-Kollegen. Bei einem Bierzelt-Auftritt kämpft sie sehr offensichtlich mit dem Text der Bayernhymne. Ist es schlimm, wenn eine bayerische Ministerin die Bayernhymne nicht kennt? Es macht es ihr jedenfalls nicht leichter.

Bei einer Pressekonferenz in Nürnberg wird Kiechle nach dem Grundstückspreis für das neue Uni-Gelände gefragt. 90 000 Euro, antwortet sie. Söder, der neben Kiechle steht, muss zur Rettung eilen: Es sind 90 Millionen. Söder dürfte da schon ahnen, dass er nicht gerade ein politisches Naturtalent verpflichtet hat.

Wenn Kiechle über die Landtagswahl im Oktober spricht, äußert sie stets große Zuversicht, ein Mandat erringen zu können. Aber ob sie nun einen Listenplatz bekommt oder gar in einem Direktwahlkreis antreten darf, das vermag sie zunächst nicht zweifelsfrei zu sagen. Es ist dann ein Listenplatz, der in diesem Jahr als fast chancenlos gilt. Als die Oberbayern-CSU diese Liste aufstellt, bemerken die Delegierten mitten in der Sitzung: Kiechle ist nicht da. Niemand hatte sie eingeladen. Sie wird herbeitelefoniert, rechtzeitig zum Gruppenfoto der Kandidaten trifft sie ein.

Kiechle ist der CSU inzwischen beigetreten, die Partei erwidert diese Liebesbezeugung nicht. "Seiteneinsteiger sind speziell in der Landtagsfraktion nicht beliebt", erklärt ein CSU-Mann. "Sie sind der natürliche Feind des Abgeordneten, der sich ja selbst als potenzieller Minister fühlt." Kiechle tue jedoch auch wenig, um die Skeptiker zu überzeugen. "Man muss auf die Leute zugehen." Nicht nur dafür fehlt ihr offenbar das Gespür. Zu Abgeordneten sagt sie demnach einmal, dass nicht jedes Kuhkaff ein Krankenhaus brauche. Die Meinung kann man vertreten, aber besser nicht in dieser Wortwahl gegenüber Leuten, die in Kuhkäffern gewählt werden wollen. Die Landtags-CSU und ihre Ministerin begegnen sich fortan noch etwas weniger unbefangen.

Auch anderswo zeichnet sich eine gewisse Isolation ab. Als das bayerische Kabinett in Brüssel tagt, sitzt Kiechle für sich am Tisch, während die Kollegen plaudern. Wenn sie Nähe sucht, dann die von Söder. Sie wirkt fixiert auf den Mann, der sie zur Ministerin gemacht hat und der nach der Wahl über ihre Weiterbeschäftigung entscheidet. Dauernd beruft sie sich auf "unseren Ministerpräsidenten". Der Charme der Unabhängigkeit ist so schnell verflogen.

Es gibt aber durchaus Leute, die Kiechle verteidigen. Ein Ministerialer sagt: "Sie wird zu hart bewertet, das hat sie nicht verdient. Vielleicht ist das eine besondere Ungnädigkeit gegenüber Frauen. Bei den Männern sind auch Pfeifen dabei, die keinen geraden Satz sagen können." Und tatsächlich riecht manche Spitze gegen Kiechle arg nach Dünkel - etwa wenn ein Hochschulpräsident die Nase rümpft, weil Kiechle ein eher sportliches Outfit trägt.

Die Göttin in Weiß bekam Gegenwind

Ein anderer Beobachter, der ihr wohlgesonnen ist, sagt: "In der Klinik war sie eine Göttin in Weiß, jeder war auf sie angewiesen. Jetzt bekommt sie Gegenwind, damit kann sie schwer umgehen." Politik ist immer persönlich, man wird angenommen oder abgelehnt. Und besonders inbrünstig ist die Ablehnung unter Kulturleuten.

Kiechle ist Ministerin für Wissenschaft, das klingt stimmig. Sie ist aber auch Ministerin für Kunst, da wird es schwierig. "Die Kulturleute wollen gefühlt und gestreichelt werden", sagt einer, der die Szene kennt. Da ist Kiechle ein Totalausfall: Wenn sie gefragt wird, was sie mit Kunst verbinde, sagt sie gern, sie habe ja auch Bilder in der Praxis hängen. Schnell wächst in der Kulturszene die Bereitschaft, die Neue fürchterlich zu finden. Der Link zu einem Interview wird verschickt, in dem Kiechle in maximaler Allgemeinheit von Opern schwärmt und Mozart ziemlich gleichrangig mit Michael Jackson anführt. Als sie die letzte Premiere des Residenztheater-Intendanten Martin Kušej besucht, ruft dieser: "Schön, dass die Kunstministerin da ist. So lernen wir uns auch mal kennen."

In der CSU, und nicht nur dort, schwindet das Vertrauen, dass Kiechle noch in die Spur findet. Sie kämpft um ihr Amt, aber ihr fehlen die Mittel. Beim "Kulturbrunch" der CSU fragt ein Besucher, warum ein Kulturschaffender CSU wählen solle. Als Kiechle kein triftiger Grund einfällt, ergreift Generalsekretär Markus Blume das Wort. Im Sommer muss man von einer Dynamik gegen Kiechle reden, viele warten nur noch auf Fehler. Als sie ein paar Minuten zu spät zu einer Flugtaxi-Schau kommt, sagt Söder: "Auch schon da?"

Ein Verteidiger sagt: "Es wäre interessant gewesen zu sehen, wie sie in zwei Jahren gewesen wäre. Wenn sie Zeit gehabt hätte, ins Amt zu wachsen." Aber diese Zeit hat Kiechle nicht. Sie hat nur sieben Monate, und die im Ausnahmezustand eines Landtagswahlkampfes. "Sie hatte eigentlich nicht wirklich eine Chance."

Kiechles Scheitern ist jedenfalls auch Söders Scheitern. Söder richtet seine Politik immer auf Effekt aus, und Kiechle versprach größtmöglichen Effekt: eine weiblichere, weltläufigere CSU. Hat Söder die Widerstandskräfte seiner Parteifreunde unterschätzt? Hat er Kiechle überschätzt?

Ohne einen Tag Pause kehrt Kiechle zurück in ihren alten Job in der Uniklinik. Bei Instagram schreibt sie: "Bin überwältigt von all den Freudentränen meiner Mitarbeiter und Patientinnen." In ihrer Email-Signatur steht: "Staatsministerin a.D.".

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