50 Jahre Nationalpark:Im Herzen der Wildnis

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Schaurig, grandios, abweisend - der Bayerische Wald galt einst als einsame Region. Nirgendwo in Bayern ist es im Winter kälter. Heute erscheint die Wildnis als knappes Naturgut und weckt Sehnsüchte.

Von Sebastian Beck und Hans Kratzer

Der Bayerische Wald, der liegt ganz da hinten. Dort, wo es nicht mehr weitergeht. Wo alles aufhört. Wo es finster wird. An der Grenze. Autobahnausfahrt Hengersberg, dann weiter auf der B 533, Grafenau, Mauth, Finsterau. Ende. Zu Fuß weiter entlang des Schwarzbachs in Richtung Lusen. Wer das vielleicht abgelegenste Eck Deutschlands sucht, der findet es hier in den Wäldern im Süden des Nationalparks. Meterdicke Baumstämme liegen kreuz und quer übereinander. Farne wuchern dazwischen, Vogelbeeren, tote Fichten ragen wie abgebrochene Bleistifte aus dem Dickicht. "Kein Netz" meldet das Handy.

Setzt man sich im letzten Licht des Tages für ein paar Minuten ruhig hin, dann glaubt man Stimmen zu hören, doch es ist nur das Wasser, das die Felsen im Bach umspült. Im Wald fliegt ein großer Vogel auf. Irgendwo in der Gegend treibt sich ein Wolfsrudel herum. Es ist ein schaurig-schönes Gefühl, alleine im Dunkeln abzusteigen, ein Privileg geradezu in Deutschland mit seinen 83 Millionen Einwohnern.

Bayerischer Wald
:Über den Wipfeln

Der neu eröffnete Baumwipfelpfad in Neuschönau eröffnet einen Blick auf die Kronen des dortigen Mischwaldes aus luftiger Perspektive - nur schwindelfrei müssen die Wanderer sein.

Der Bayerische Wald und speziell der Nationalpark sind Gegenden für Romantiker, obwohl sie so gar nichts Romantisches an sich haben. Ja, der Nationalpark hat seine grandiosen Momente zu jeder Jahreszeit. Aber es gibt auch Tage, da steht der Wald so trostlos im Regen da, als wolle er den Besuchern nur eins sagen: Schleich dich, hau ab, aber schnell! Dann fährt man zurück Richtung Deggendorf, vor den Scheibenwischern taucht der Gäuboden auf, mit seinen riesenhaften Industriehallen und Agrarfabriken, BMW in Dingolfing, das Atomkraftwerk Ohu, der Münchner Flughafen, Garching. Bayerische Landschaften des 21. Jahrhunderts.

Maler haben sich nie sonderlich für den Bayerischen Wald interessiert. Er bietet keine Dramatik wie das Wettersteingebirge oder der Königssee. Keine Schluchten oder entrückte Schneefelder. Keine Dirndl- und Lederhosenbayern. Die Waldberge verlieren sich gleichförmig am Horizont, dazwischen Rodungsinseln und meist schmucklose Dörfer. Die Münchner Stadtbevölkerung hatte in den Anfangsjahren des Fremdenverkehrs vielleicht Sehnsucht nach dem Tegernsee oder nach Bad Reichenhall, aber gewiss nicht nach Grafenau oder Viechtach. Denn dort hinten grassierte die Armut bis hinein in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts.

Im Freilichtmuseum von Finsterau lässt es sich noch heute erahnen, welch deprimierende Existenzen die Menschen hier einst führten. Wer den Bayerischen Wald und die besondere Atmosphäre des Nationalparks begreifen will, muss sie sich aber in Erinnerung rufen. Denn die Menschen und die karge Natur gingen hier eine Symbiose ein. Der Schriftsteller Siegfried von Vegesack, der seit 1918 im Turm der Burgruine Weißenstein bei Regen wohnte, hat der beklemmenden Dorfstimmung ein Gedicht gewidmet: "Dort, wo der Wald dunkel und drohend beginnt, duckt sich das Dorf gegen den Böhmerwind. Wie verweinte Augen, die lange gewacht, blinken Lichter blind in die Nacht. Um die spärlichen, trübe flackernden Flammen hocken die Häusler mürrisch beisammen. Jeder löffelt, tief nach vorne gebeugt, stumpf die saure Suppe und schweigt. Bald erlischt in den Fenstern der letzte Schimmer. Irgendwo tönt schwaches Gewimmer."

Nationalpark Bayerischer Wald
:Genuss auf Granit

Im Nationalpark Bayerischer Wald ist aus dem Fluch des Borkenkäfers ein Segen geworden. Die abgestorbenen Bäume ermöglichen fantastische Aussichten von den Bergen und neue Tourismus-Konzepte zielen auf Wanderer, für die der Gipfelsturm nicht alles ist.

Stefan Fischer

Diese Wald- und Gebirgsregion galt seinerzeit als so rückständig, finster und ärmlich, dass eine Berliner Zeitung sie noch um das Jahr 1900 herum als das "deutsche Sibirien" gebrandmarkt hat. Im Winter ist es an der Grenze zu Tschechien schon immer kälter als anderswo in Bayern gewesen, auch heute noch, obwohl der Frühling inzwischen vier Wochen früher beginnt als im 20. Jahrhundert. Einst bedeutete der in Massen herabfallende Schnee nur eine zusätzliche Erschwernis des Lebens, was in vielen Redewendungen, Märchen und Mythen zum Ausdruck kommt. Der Autor Josef Kyselak schilderte diese Existenzangst vor gut 200 Jahren wie folgt: "Das beständige Durcharbeiten im Schnee, die ängstliche Sorge, in demselben abglitschend zu erfallen, oder auf immer begraben zu werden, brachte mich dermaßen in Schweiß, daß ich bei geringstem Stillstande todt umzusinken fürchtete."

Auch der Dichter Adalbert Stifter hat solche Nöte eindringlich beschrieben, etwa in seiner Erzählung "Aus dem bairischen Walde", zu der ihn eine selbst erlebte Schneekatastrophe im Jahr 1866 inspiriert hatte. Er war damals fünf Tage in einem Landschlösschen eingeschneit. Dem episch geschilderten "erhabenen Wald" stellt er in tiefer Dramatik das "alles verschlingende Gemische von undurchdringlichem Grau und Weiß, von Licht und Dämmerung, von Tag und Nacht" gegenüber, eine ergreifende Melange, die sich ins allgemeine literarische Gedächtnis eingebrannt hat.

Auch Wilhelm Dieß erzählt in seiner Geschichte "Die gefrorenen Stiefel" von 1904 vom beinharten, aber herrlichen Bayerwald-Winter. Bei einer Wanderung an der böhmischen Grenze erlebt er eine "unermessliche Schönheit", entkommt aber im Schnee nur knapp dem Tode. Die Schriftsteller konnten der Tristesse des Waldes und der Wildnis also stets auch etwas Erhabenes abgewinnen. Noch einmal Vegesack: "Ein armes Land, in harter Fron bebaut: Felsbrocken, Steingeröll und karge Erde, von dunklem Wäldermeer umblaut. Und doch an stiller Schönheit reich, dass auch dem Fremden noch es Heimat werde ..." Auch im Volkslied fand diese Sicht Niederschlag: "Da Woid is schee", heißt es dort, der Wald ist finster, aber schön. Hermann Lenz wähnte sich in einem "Fichtenwipfelmeer auf den Erdwogen der Höhenzüge, die sich lagerten wie Tiere, aneinanderschmiegten, ineinander übergingen, weiter draußen dunkelblau."

Die Menschen empfanden dieses Waldgebirge stets als härter, kälter und geheimnisvoller als andere Gegenden. Dazu die Einsamkeit, die sich vom Arber aus bis ins Böhmische hinein erstreckt. Der Bevölkerung war diese Ästhetik vor den Elogen Stifters und seiner Dichterkollegen gewiss völlig fremd. Und heute? Heute erscheint die Wildnis nicht mehr als Bedrohung, sondern als knappes Gut, in einem Land, dessen Fluren in den vergangenen Jahrzehnten "bereinigt" wurden, wie es im Behördenjargon heißt. Das weckt Sehnsüchte. Der Nationalpark zieht immer mehr junge Menschen an. Gerade in den Zeiten von Corona entdecken sie die Vorzüge der Abgeschiedenheit, was für neue Probleme sorgt. Nationalparkchef Franz Leibl hat es neuerdings mit Besuchern zu tun, die - wie in den Alpen - Natur in erster Linie als eine Art Sportgerät sehen.

Aber so riesig das Wäldermeer auch erscheinen mag, wenn man wie der Dichter Vegesack auf dem Gipfel des Rachel steht: Der Nationalpark Bayerischer Wald bleibt doch eine winzige Insel inmitten der intensiv genutzten Kulturlandschaft. Rechnet man den Nationalpark Berchtesgaden hinzu, so bedecken die beiden Schutzgebiete gerade einmal 0,6 Prozent der bayerischen Landesfläche. Sie sind Refugien für Arten, die sonst nirgendwo mehr eine Chance hätten. Denn die Naturzerstörung schreitet ungebremst voran. Daran konnten auch die vielen politischen Initiativen nichts ändern: Natura 2000, FFH-Gebiete, Vogelschutzrichtlinie, Biotopverbund, Bienenvolksbegehren - das sind nur einige Schlagwörter aus den umweltpolitischen Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte. Gebracht haben die Bemühungen allenfalls punktuell etwas: Luchse und Steinadler beispielsweise breiten sich inzwischen auch außerhalb der beiden Nationalparke wieder aus.

Luchs im Nationalpark Bayerischer Wald bei Spiegelau. (Foto: Sebastian Beck)

Trotzdem stehen immer mehr Arten in Bayern auf den Roten Listen - alleine neun von zehn Reptilienarten. Die meisten Ursachen für den Schwund sind längst erforscht: die Intensivierung der Landwirtschaft, der großflächige Anbau von Energiepflanzen, der Verlust von Kleinstrukturen wie Hecken und Feldrainen, der Pestizideinsatz - all das listet das staatliche Landesamt für Umwelt auf. Es wirkt daher wie ein kurioser Gegensatz, wenn Besucher im Nationalpark Bayerischer Wald die Wege keinesfalls verlassen dürfen, während ein paar Kilometer weiter die Landschaft großflächig unter Beton verschwindet. Wer auf der Autobahn A 92 fährt, der sieht ein krasses Beispiel für diese Entwicklung: Auf der einen Seite liegt das Königsauer Moos, in dem die letzten Brachvögel Bayerns aufwendig überwacht werden. Auf der anderen Seite ist an der Autobahnausfahrt gerade wieder eine gigantische Logistikhalle hochgezogen worden.

Der Biologe Hansjörg Küster, Verfasser von Standardwerken zur Geschichte des Waldes und der Landschaft, wünscht sich deshalb einen grundsätzlich anderen Umgang mit der Landschaft. Die Nationalparkidee erachtet er zwar für gut, auch wenn er daran erinnert, dass selbst der so ursprünglich anmutende Bayerische Wald im Grunde ein vom Menschen gestalteter Forst sei. Die Aufteilung in Wildnisse einerseits und Zonen der Intensivlandwirtschaft andererseits hält er für den falschen Weg: Küster schwebt ein Ausbau der Biosphärenreservate wie in der Rhön vor. Also Kulturlandschaften, die vom Menschen bewusst gestaltet werden, um eine möglichst große Vielfalt an Lebensräumen zu bieten.

In der Praxis freilich sind solche Versuche immer wieder zum Scheitern verurteilt: Zu übermächtig sind die Interessen derer, denen das Land gehört. Hecken und Alleen werden von Bauern vor allem als Kostenfaktor gesehen, sie mindern den Ertrag und senken den Gewinn. Staatliche Eingriffe blieben bisher erfolglos. Daran hat selbst das Bienenvolksbegehren nichts geändert. Das anfangs als Zeitenwende im Artenschutz gefeierte Gesetz wird auf Druck der Agrarlobby inzwischen mit so viel Kleingedrucktem ergänzt, dass schon jetzt prophezeit werden kann: Es wird genauso wenig bringen wie all die vorangegangenen Initiativen.

Die beiden bayerischen Nationalparke werden deshalb weiter wie zwei Solitäre aus der Industrielandschaft ragen. Für eine echte Kehrtwende im Naturschutz fehlen der Wille und die politischen Köpfe, gerade in der CSU. Dem Nationalparkchef Leibl fällt jedenfalls kein profilierter CSU-Umweltpolitiker ein. Früher war das anders: Leute wie Fraktionschef Alois Glück und der Bundestagsabgeordnete Josef Göppel beschäftigten sich intensiv mit Umweltfragen, ganz zu schweigen von Hans Eisenmann, dem Gründer des Nationalparks Bayerischer Wald. Das Umweltministerium wird ohnehin von den Freien Wählern geführt, denen mehr an "wolfsfreien Zonen" denn an Artenschutz gelegen ist.

Einen dritten Nationalpark wird es in Bayern daher so schnell nicht geben, obgleich das Bundesamt für Naturschutz schon vor Jahren zu der Einschätzung kam, dass Deutschland und insbesondere Bayern eine Verpflichtung zum Schutz der Buchenwälder haben. Der Steigerwald und der Spessart wären deshalb in den Augen von Leibl und vieler anderer Fachleute ideale Kandidaten für den nächsten Nationalpark. Die Staatsregierung ist freilich vor dem Widerstand der Bauernlobby eingeknickt. Stattdessen hat sie dem Nationalpark Bayerischer Wald zum 50. Geburtstag weitere 600 Hektar Flächen geschenkt, die ohnehin in Staatsbesitz sind. Ein Geschenk, das Leibl nur zu gerne annimmt. Das aber unterm Strich erbärmlich wirkt, weil es eben auch bedeutet: Die Politik in Bayern ist zu schwach, um einen dritten Nationalpark durchzusetzen.

© SZ vom 02.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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