München (dpa/lby) - Das Missbrauchsgutachten der Erzdiözese München und Freising schlägt nach wie vor Wellen - und viele Katholiken scheinen ihre Konsequenzen daraus zu ziehen. Denn die Zahl der Kirchenaustritte in bayerischen Städten ist nach der Vorstellung des Gutachtens vor einem Monat förmlich explodiert. Das hat eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter mehreren Städten im Freistaat ergeben. In München verdoppelte sich die Zahl der Austritte, wie ein Sprecher des Kreisverwaltungsreferates (KVR) mitteilte: „In der ersten Januarhälfte, also vor dem Gutachten, hatten wir in München pro Arbeitstag in etwa 80 Kirchenaustritte. Seit dem 20. Januar, also seit dem Gutachten, sind es um die 150 bis 160 Kirchenaustritte pro Arbeitstag. Also etwa doppelt so viele.“
Bambergs Erzbischof Ludwig Schick hat sich vor dem Hintergrund des Gutachtens unterdessen für massive Reformen in der Kirche ausgesprochen. Unter anderem sollen Frauen zu Diakoninnen geweiht werden können und die Wahl von Bischöfen demokratischer gestaltet werden, regte er in einem Gastbeitrag in der „Fuldaer Zeitung“ an. „Für die Reform der Kirche ist ebenso wichtig, dass Frauen noch mehr Leitungsämter wahrnehmen - auch in pastoralen Diensten“, schreibt Schick in dem Beitrag (Samstagausgabe). Der Vorschlag der Diakoninnen-Weihe müsse geprüft und umgesetzt werden.
Bei der Bischofswahl solle das Kirchenvolk mehr Mitspracherecht bekommen. „Die Domkapitel, die in Deutschland geheim Wahllisten erstellen und aus Dreierlisten wählen, sind keine Repräsentanz des Volkes Gottes“, schreibt Schick. Er schlägt stattdessen vor, dass der Priesterrat und das Laiengremium des Katholikenrates im Bistum gemeinsam mit den Hauptabteilungsleitern der Generalvikariate und den Nachbarbischöfen das Wahlgremium bilden könnten. Der Papst könne die Wahl dann bestätigen.
Zur Missbrauchsdebatte schrieb er, zu viele Amtsträger hätten schuldhaft oder unachtsam, bewusst oder unbewusst, schreckliche Taten begangen, sie verschleiert oder deren Aufdeckung verhindert. „Klerikalismus, hierarchische Überhöhung, Klüngelbildung, Seilschaften und Machtmissbrauch sind Ursachen dafür“, erklärt er.
In den Kommunen geht man davon, dass die Kirchenaustritte zunächst ungebremst weitergehen. „Die Nachfrage ist sicherlich dreimal so hoch wie Anfang des Jahres“, sagte der Sprecher. Doch die sei nicht zu bewältigen: „Das Limit ist hier unsere Kapazitätsgrenze, vor allem beim Personal.“ Und das obwohl das KVR die Öffnungszeiten verlängert und mehr Leute eingesetzt hat. „Trotz erweiterter Öffnungszeiten und Personalumschichtungen wird es wegen der sehr hohen Nachfrage voraussichtlich nicht möglich sein, alle Austrittswünsche zeitnah zu bedienen.“ Ob die Menschen aus der katholischen oder der evangelischen Kirche austreten, wird in München statistisch nicht erfasst.
Der Religionspädagoge Ulrich Riegel, der eine vielbeachtete Studie über Kirchenaustritte im Bistum Essen leitete, rechnet mit einem neuen Austritts-Rekord in diesem Jahr. „Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch.“ Über die Gründe, warum so viele Menschen so prompt auf das Gutachten reagieren, kann er nur mutmaßen: „Zum einen war besagtes Gutachten viel klarer als die bisherigen, denn es hat konkrete Personen benannt. Zum anderen war mit Joseph Ratzinger eine Person unter den angesprochenen, der als Papa Emeritus eine größere öffentliche Wirkung entfaltet als etwa die Bischöfe von Köln und München“, sagt er. „Außerdem dürfte die Reaktion Ratzingers auf das Gutachten wohl auch viele der Vorwürfe bestätigt haben, die zum Umgang der Kirche mit dem Missbrauch im Raum stehen.“
Andere Städte in Bayern bestätigen den Trend, der sich in München so deutlich abzeichnet: Das Standesamt Nürnberg meldete zwischen dem Tag der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens am 20. Januar und dem 14. Februar 617 Kirchenaustritte, davon 381 aus der katholischen, 234 aus der evangelischen Kirche und zwei Sonstige. Vor zwei Jahren - im Vergleichsjahr 2020 - hatte das Standesamt in diesem Zeitraum nur 372 Austritte, davon 200 katholisch, 165 evangelisch und sieben Sonstige.
Das am 20. Januar vorgestellte und vom Erzbistum München und Freising selbst in Auftrag gegebene Gutachten der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) war zu dem Ergebnis gekommen, dass Fälle von sexuellem Missbrauch in der Diözese über Jahrzehnte nicht angemessen behandelt worden waren. Die Gutachter gehen von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern, zugleich aber von einer deutlich größeren Dunkelziffer aus. Sie erhoben schwere Vorwürfe unter anderem gegen den emeritierten Papst Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, dem sie vierfaches Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchsfällen vorwerfen.
In Regensburg, der Stadt, in der Ratzinger als Theologieprofessor lebte und arbeitete und in der er 2020 noch seinen Bruder Georg kurz vor dessen Tod besuchte, zählte das Standesamt seit Jahresbeginn rund 550 Kirchenaustritte - im Vergleich zu 269 im Vorjahr.
254 Menschen erklärten in Ingolstadt vom 20. Januar bis zum 17. Februar ihren Austritt aus der Kirche - im selben Zeitraum des Vorjahres waren es 84. „Das Standesamt meldet eine weiterhin große Nachfrage nach Austrittsterminen“, sagte ein Sprecher der Stadt und in Würzburg gingen nach der Vorstellung des Gutachtens 320 Anfragen zum Austritt ein und damit 230 mehr als 2021 zur gleichen Zeit. Zwischen dem 1. Januar und dem 17. Februar vollzogen dort 366 Menschen diesen Schritt. Im Vorjahreszeitraum waren es 208.
Insgesamt 221.390 Menschen waren 2020 in Deutschland aus der katholischen Kirche ausgetreten, 220.000 aus der evangelischen. Dabei fielen die Zahlen - wohl wegen der Corona-Krise - nicht so hoch aus wie befürchtet.
Eine neue Qualität sieht der Religionspädagoge Riegel nach dem Münchner Gutachten trotz der Zahlen aus den bayerischen Kommunen nicht - eher die Bestätigung eines Trends. „Sämtliche Studien zu den Austrittsmotiven in den letzten Jahrzehnten ergeben ein relativ konstantes Bild an Austrittsmotiven. Allerdings dürften sich die Motive, die sich auf das Handeln der Kirche beziehen, momentan wichtiger für den Austritt sein als andere Motive“, sagt er.
„Wo ich eine neue Qualität sehe ist die innerkirchliche Diskussion. Es ist zwar nur Spekulation, aber viele Beschlüsse der letzten Versammlung des Synodalen Weges wären wohl kaum so deutlich ausgefallen, hätte es dieses Gutachten nicht gegeben.“ Im Rahmen des Synodalen Weges, des derzeit laufenden Reformprozesses innerhalb der katholischen Kirchen in Deutschland, waren kürzlich erstaunlich liberale Beschlüsse gefallen zu Frauen als Diakoninnen, verheirateten Priester, der Segnung homosexueller Paare und der Mitsprache von Gläubigen bei der Bischofswahl.
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