Bildung in Bayern:Mehr Auswahl für Viertklässler - mit welchen Folgen?

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Wirtschaftsschulen, wie hier in München, sind eine bayerische Spezialität. Sie können künftig vereinzelt auch schon von jüngeren Schülerinnen und Schülern besucht werden. (Foto: Stephan Rumpf)

Im kommenden Schuljahr können auch Wirtschaftsschulen fünfte Klassen anbieten. Der Modellversuch hat noch nicht begonnen, der bayerische Lehrerverband äußert Bedenken - es geht um den Status der Mittelschulen und den Druck beim Übertritt.

Von Anna Günther

In acht Wochen bekommen 114 000 Grundschüler ihr Übertrittszeugnis. Sie sind die ersten in Bayern, die sich - je nach Note - zwischen vier Schularten entscheiden können. Neben Real- und Mittelschulen sowie Gymnasien werden von September an ausgewählte Wirtschaftsschulen mit der fünften Klasse beginnen. Diese Schulart ist eine bayerische Spezialität, eine praxisorientierte, berufliche Schule, die frühestens ab der siebten Klasse auf Berufe in Wirtschaft und Verwaltung vorbereitet und den Mittleren Schulabschluss verleiht.

Derzeit besuchen 16 600 Schüler und Schülerinnen die 74 Wirtschaftsschulen, staatliche wie private. Der frühere Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) hatte 2020 allen Wirtschaftsschulen ermöglicht, mit der sechsten Klasse zu beginnen. 55 bieten derzeit so eine Vorklasse an, in der Mädchen und Buben aus unterschiedlichen Schularten auf den Beginn des Wirtschaftsschulprogramms in der siebten Klasse vorbereitet werden. Kultusministerin Anna Stolz (FW) geht nun einen Schritt weiter: Die fünfte Klasse soll als Modellversuch eingeführt werden. Bewerben dürfen sich alle Schulen, die eine Vorklasse haben. Diese kann vormittags oder im gebundenen Ganztag angeboten werden. Mit dem Schulversuch will Stolz "die berufliche Bildung in Bayern stärken".

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Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) sieht darin eine Bedrohung, spricht von "eklatanter Fehlentscheidung zum Nachteil der Kinder" und befürchtet eine "weitere Schwächung der Mittelschule", eine "Verschärfung des Übertrittsdrucks" und eine "Gefahr für den M-Zug". Darin können Schüler und Schülerinnen auch an einigen der 948 Mittelschulen im Freistaat den Mittleren Schulabschluss machen.

Johann Riedl wundert sich über diese Sorgen: "Klar, die Wirtschaftsschulen stehen immer im Verdacht, andere Schularten kaputtzumachen, aber das ist irrational. Diese Schulart ist dermaßen klein, wir gefährden keine anderen." Dann spult der Schulleiter der Deggendorfer Wirtschaftsschule Argumente ab. Die Aufnahmebedingungen seien klar: Mädchen und Buben brauchen für den Übertritt an die Wirtschaftsschulen einen Notenschnitt von 2,66 in Mathe, Deutsch sowie Heimat- und Sachkunde. Dasselbe gilt für die 374 Realschulen. "Wer einen Schnitt von 2,66 hat, wird an der Mittelschule nicht aufschlagen und wir nehmen auch dem Gymnasium niemanden weg, denn da können Kinder mit 2,66 noch in den Probeunterricht gehen", sagt Schulleiter Riedl. Das geht an Wirtschaftsschulen nicht. Wieso Mittelschulvertreter den Ausbau so fürchten, erschließe sich ihm nicht, sagt Riedl.

Ähnlich geht es Martin Löwe, dem Chef des Bayerischen Elternverbands, er sieht keinen "gravierenden Unterschied" zur aktuellen Situation. Löwe begrüßt die fünfte Klasse, weil Schulwechsel von Kindern "oft als belastend empfunden werden" und sie sich künftig Umwege über andere Schularten sparen. Der Verband der beruflichen Schulen freut sich erwartungsgemäß und lobt, dass "endlich die strukturelle Schieflage" im Schulsystem "begradigt" wird.

Viele Mittelschullehrkräfte sorgen sich, dass bei ihnen lernt, wer übrig bleibt

Und an den Realschulen, der - nach Notenschnitt - echten Konkurrenz? Ulrich Babl, Vorsitzender des Realschullehrerverbands, gibt sich souverän und preist die "Qualität" sowie das "Alleinstellungsmerkmal" des Realschulabschlusses: Je nach Neigung und Talent können Schüler verschiedene Wahlpflichtfächergruppen wählen und sich spezialisieren. Aber Babl nimmt das Kultusministerium in die Pflicht: Das Angebot der Realschulen dürfe nirgendwo begrenzt werden, weil dort eine Wirtschaftsschule mit der fünften Klasse beginnt. Das habe man ihm im Ministerium zugesichert.

Um die Ängste zu verstehen, muss man Schüler und Schülerinnen als Ressource betrachten: An der Zahl der Kinder hängt die Zahl der Klassen, der Lehrerstunden, die Breite des schulischen Angebots und das Gehalt des Schulleiters. Je weniger Schüler an eine Schule wechseln, desto schmäler wird das Angebot. Viele Mittelschullehrkräfte sorgen sich, dass bei ihnen lernt, wer übrig bleibt - mit fatalen Folgen für das Selbstwertgefühl der Kinder sowie für ihren Arbeitsalltag.

Der Deggendorfer Schulleiter Riedl ist überzeugt von der Vorklasse, er war von Beginn an dabei und würde sofort die Bewerbung rausschicken. Voraussetzung ist aber die Zustimmung seines Schulträgers - und des Realschulträgers. Dies dürfte ein Versuch des Kultusministeriums sein, dem Stunk vor Ort vorzubauen. Wer dem Modellversuch zugestimmt hat, kann schwerlich mosern. Riedl wartet noch auf die Entscheidung seines Landrats. Bernd Sibler (CSU) kennt sich aus, er war vor Piazolo Kultusminister. Aber Sibler hat schlechte Nachrichten: Die Situation in der Stadt Deggendorf sei halt speziell, erklärt er am Telefon. Es gibt nur die katholische Mädchenrealschule und dort erst seit zwei Jahren auch eine Klasse für Buben. Das soll nicht gestört werden. "Wir wollen uns erst die Auswirkungen anschauen und diesmal nicht bei der ersten Welle dabei sein."

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