Misshandlungen bei Kindern:Die Spuren der Gewalt

Lesezeit: 3 min

Nicht wenige Kinder werden Opfer von sexueller, körperlicher und psychischer Gewalt sowie von Vernachlässigung. Um ihnen helfen zu können, müssen auch Ärzte spezifisch ausgebildet werden. (Foto: Waldmüller/imago)

Künftig soll es Ärzten leichter fallen, Vernachlässigung und Misshandlungen bei Kindern zu erkennen. Dabei hilft ihnen eine neue Online-Fortbildung.

Von Dietrich Mittler, München

Es klingt wie aus einem düsteren Märchen, in dem sich die böse Stiefmutter an Kindern vergreift. Für das fünfjährige Mädchen, das die Rechtsmedizinerin Elisabeth Mützel nicht vergessen kann, gab es - anders als in den meisten Märchen - kein Happy End. Kurzfassung eines Dramas: Der Vater des Kindes war viel unterwegs, und die Stiefmutter, die eigene Kinder mit in die Ehe gebracht hatte, völlig überfordert mit der Familiensituation. Nachbarn fiel auf, dass die Fünfjährige oft geschlagen wurde, dass sie wenig zu essen und zu trinken bekam. Das Kind wehrte sich: Es nässte ein, es schrie. "Und irgendwann wurde es tot in der Badewanne aufgefunden. Von der überforderten Stiefmutter ertränkt", sagte Mützel.

Selbstredend saß Elisabeth Mützel, die Leiterin der Bayerischen Kinderschutzambulanz, am Freitag mit am Tisch, als Sozialministerin Kerstin Schreyer (CSU) in München die neue, von der Bayerischen Landesärztekammer zertifizierte Online-Fortbildung zum Kinderschutz vorstellte - interdisziplinär erstellt von so ausgewiesenen Fachleuten wie Elisabeth Mützel, die von den bislang acht Ausbildungsmodulen jenes über körperliche Gewalt gegen Kinder und Jugendliche übernommen hatte. "Jedes Kind, das Gewalt oder Vernachlässigung erlebt, ist eines zuviel", sagte Schreyer bei der Präsentation des Projekts. Durch die Online-Schulung sollen Ärzte künftig schneller erkennen können, ob ein Kind körperliche, sexuelle oder seelische Gewalt erlitten hat.

Therapie
:Wo Kinder wichtige Entwicklungsschritte nachholen

Wenn Mädchen und Jungen noch nicht bereit für die Schule sind, bekommen sie Unterstützung in der Heilpädagogischen Ambulanz. Miriam Fichtner betreut dort auch die Eltern.

Von Kathrin Aldenhoff

Ein Grund zufrieden zu sein? Offenbar nicht. "Ich werde nie zufrieden sein mit dem Erreichten, solange auch nur ein Kind so etwas erleidet", sagte Schreyer. Es gelte, kleinste Anhaltspunkte wahrzunehmen. Die Dunkelziffer in diesem Bereich ist hoch. "Wenn Kinder mit Verletzungen zum Arzt kommen, ist das meistens beim Spielen, Toben oder bei einem Sturz passiert", sagte Schreyer. Aber es gebe eben auch Verletzungen, die einen schlimmeren Hintergrund haben.

Elisabeth Mützel zeigte Fotos aus der Praxis des Instituts für Rechtsmedizin der LMU München: ein Kindergesicht, bläulich-rote Streifen quer über die Wange - die Finger der zuschlagenden Hand hatten Spuren hinterlassen. Ein anderes Bild zeigte den Arm eines Säuglings - verbrüht. Mützel ersparte ihren Zuhörern die Fallschilderung. Aber dieser Fall fand offenbar Eingang in die polizeiliche Kriminalstatistik. Dort heißt es unter der Rubrik "Misshandlung von Schutzbefohlenen" für das Jahr 2018: 391 Fälle allein in Bayern. Unter "Sexueller Kindesmissbrauch" sind es 2056 Fälle. Hinzu kamen im Bereich "Mord, Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge" sechs Fälle.

Auch die Jugendämter führen Buch. 2018 wurden da 18 784 Fälle aufmerksam beobachtet, in mehr als 3100 lag eine "akute Kindeswohlgefährdung" vor, in mehr als 2900 eine "latente" - und in weiteren rund 6700 Fällen hatten die Eltern dringenden Hilfe- oder Unterstützungsbedarf durch die Jugendämter. Da galt es, Schlimmeres zu verhindern. In diesem Zusammenhang ist es Schreyer wichtig, auch jene Eltern zu erreichen, denen der liebevolle Bezug zu ihren Kindern zu entgleiten droht: "Es gibt für diese Eltern Beistand. Die weit überwiegende Arbeit von Jugendämtern besteht aus Hilfsangeboten." Auch an die Nachbarn problematischer Familien richtete sich Schreyer: "Wir schlafen alle besser, wenn wir nicht wegschauen, sondern aktiv werden."

Was aber tun, wenn es keine offensichtlichen Wunden gibt, wenn die Gewalt gegen Kinder eine seelische ist? Auch auf diese Fälle geht die neue Online-Ausbildung für Ärzte ein. Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor des kbo-Heckscher-Klinikums in München, hat dieses Modul zusammen mit seiner Oberärztin Antje Schmidts erstellt. Freisleder betonte, wie wichtig es sei, selbst in schwierigsten Situationen noch die Eltern "in das therapeutische Setting zu integrieren".

Aber, zu Beginn jeder Diagnose steht - wie auch bei den körperlichen Auffälligkeiten - zunächst die Frage: Fand hier ein Übergriff statt? Die Fortbildung, digital umgesetzt von Sean Monks und seiner "Fortbildungsakademie im Netz", soll den Medizinern hier Handreichungen geben. Sowohl die Landesärztekammer als auch der Hausärzteverband und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte wollen das Projekt nun umgehend ihren Mitgliedern nahebringen. "Ärztinnen und Ärzte, denen eine Teilnahme an einer Fortbildung von Angesicht zu Angesicht nicht möglich ist, können sich nun internetbasiert auf dem Gebiet des Kinderschutzes fort- und weiterbilden", sagte Schreyer. Ihr Haus hat das Projekt mit 300 000 Euro unterstützt und auch inhaltlich zugearbeitet. Es war der Mühe wert, wie sie findet. Durch ihren frühen Kontakt zu den Eltern und Kindern könnten Ärzte rasch erkennen, "ob etwas schiefläuft".

Wie der Tod der Fünfjährigen juristisch aufgearbeitet wurde, weiß Rechtsmedizinerin Elisabeth Mützel indes heute nicht mehr zu berichten. "Ich selber bin nicht in die Gerichtsverhandlung gegangen", sagte sie, "ich habe mir damals gesagt, da kann ich nicht reingehen."

© SZ vom 19.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusSexueller Missbrauch
:Es ist okay, Schwäche zu zeigen

Missbrauchsopfer glauben oft, ihr Leid verstecken zu müssen. Ulrike Tümmler-Wanger und Stefan Port beraten seit knapp 20 Jahren Jungen und junge Männer, die sexualisierte Gewalt erlebt haben.

Von Kathrin Aldenhoff

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: