Der Schock, die Empörung, das Mitgefühl, das Entsetzen - alles war groß in diesem Fall von Lügde, wie auch der Fall selbst. 32 missbrauchte Kinder, Hunderte Einzeltaten über fast 20 Jahre. Mit den Urteilen gegen die Hauptangeklagten - lange Haftstrafen, anschließende Sicherungsverwahrung - ist der massenhafte sexuelle Missbrauch von Kindern strafrechtlich erledigt, vorerst. Aufzuarbeiten bleibt, inwieweit womöglich behördlicher Gleichmut dazu beigetragen hat, dass das unerhörte Treiben auf einem Campingplatz in der nordrhein-westfälischen Provinz nicht viel früher gestoppt werden konnte. Hinweise lagen vor, Akten waren angelegt, Namen waren auf dem Radar. Nur Konsequenzen gab es nie. Warum?
Während sie geschehen sind, die Taten von Lügde, waren sie in ihrer Monstrosität nicht erkennbar. Es waren einzelne Verdachtsfälle. Auf den Haupttäter Andreas V. gab es Hinweise. Er könne, so hieß es, dem einen oder anderen Kind näher kommen, als das ein netter Onkel aus dem Wohnwagen tun sollte. Diese Einzelfälle aber sind die eigentliche Dimension des sexuellen Missbrauchs von Kindern: Missbrauch ist alltäglich. In jeder Schulkasse in diesem Land sitzen, statistisch betrachtet, ein bis zwei Kinder, die sexuelle Missbrauchserfahrungen machen mussten. In der Familie, im Verein, in der Schule selbst, in der Ferienfreizeit. Überall.
Alle diese Fälle zusammengerechnet sind Tausende Mal größer als Lügde und geschehen meistens doch unbemerkt. Sie müssen in den Fokus der Gesellschaft rücken. Kinder brauchen keinen Schutz, der nur auf dem Papier formuliert wird. Sie brauchen tatsächlichen Schutz. Den bekommen sie, wenn sie von qualifizierten Lehrern beobachtet werden, die Anzeichen von Missbrauch erkennen können; den haben sie, wenn Sozialarbeiter in Jugendämtern so sicher in ihrem Urteil sind, dass sie sich auch trauen, konsequent zu handeln. Dafür müssen sie ausreichend qualifiziert sein. Um die Polizei oder die Staatsanwaltschaft einzuschalten, darf nicht Mut erforderlich sein, sondern die eigene fachliche Überzeugung, das Richtige zu tun.
Nicht der Fall Lügde war groß. Das Problem sexueller Gewalt gegen Kinder war und bleibt groß.