Flüchtlinge in Bayern:Ein rätselhafter Brief für Familie Sarvar

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Die afghanische Familie Servar regt sich auf, weil ihr ein Anhörungsbescheid nicht zugestellt wird. (Foto: Christian Endt)
  • Die Familie Sarvar ist im Frühjahr 2016 von Afghanistan nach Deutschland geflüchtet.
  • Inzwischen lebt das Ehepaar mit seinen kleinen Zwillingen in einer Containersiedlung im oberbayerischen Edling.
  • Die SZ begleitet das Leben der Familie in der neuen Heimat in einer Langzeit-Reportage.

Langzeitreportage von Katharina Blum und Nina Bovensiepen

Auf dem Fernseher steht noch der Apfel-Nikolaus mit dem Walnusskopf und dem Watte-Rauschebart, den Fazila Asif mit den anderen Frauen aus der Unterkunft gebastelt hat. Vor ein paar Tagen war der Nikolaus in der Edlinger Containersiedlung zu Besuch und hat auch die Zwillinge der afghanischen Flüchtlingsfamilie gefragt, ob sie denn brav waren. Es gab kleine Geschenke für Maivand und Maihan und die anderen Kinder, es wurde gegessen und alle sangen gemeinsam: "Lasst uns froh und munter sein und uns recht von Herzen freuen." Ein schönes Fest war das, sagt der Vater.

Wenig später ist Gulam Sarvar alles andere, nur nicht froh und munter. Drei Tage nach Nikolaus haben sie Post bekommen, vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Die Familie sei nicht zu ihrer Anhörung am 25. Oktober erschienen, ihr Asylverfahren sei deshalb nun eingestellt.

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Von Katharina Blum, Nina Bovensiepen (Text), Johannes Simon (Fotos)

Sarvar sitzt auf dem Holzsessel mit dem rot-karierten Bezug, auf dem Schoß liegt ein Aktenordner, die zweieinhalb Jahre alten Zwillinge spielen zu seinen Füßen mit ihren Bauklötzen. Er blättert durch die abgehefteten Seiten, viele Briefe haben sie schon hierher nach Edling bekommen, Station Nummer vier von Gulam Sarvar und seiner Familie in Deutschland, seit sie sich am 11. November 2015 zur Flucht aus Afghanistan entschlossen haben. Briefe von der Ausländerbehörde, vom Sozialamt und jenen Brief, dass sie die Anhörung verpasst haben.

Nur eben keinen mit einem Anhörungstermin. "Jeden Tag, jede Nacht, wir waren doch immer hier. Wie kann das sein?", fragt sich der 50-Jährige. Zumal sie sofort, als sie im Oktober aus der Kaserne in Fürstenfeldbruck hierher verlegt wurden, den Umzug gemeldet und die vier Namen auf den Briefkasten geklebt hätten. Auch die Helfer vom Asylkreis würden darauf achten, dass das niemand vergisst. "Ich weiß doch, was es für schlimme Konsequenzen haben kann, wenn man die Anhörung verpasst", sagt Sarvar. "Die anderen Flüchtlinge habe ich immer davor gewarnt."

Das Bundesamt verschickt die Einladungen zu den Anhörungen mit dem sogenannten Postzustellungsverfahren, noch so ein Wort, das deutsch und kantig klingt, wie viele Begriffe im Asylverfahren. Es bedeutet, dass urkundlich festgehalten wird, wem, wann, wo und unter welchen Umständen das Schriftstück zugestellt wurde. Auf Nachfrage erklärt das Bamf, dass im Fall der Sarvars die Urkunde mit dem Vermerk "Adressat unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln" zurückkam.

Der Briefkasten ist nicht zu übersehen

Edling ist ein Ort mit viereinhalbtausend Einwohnern in der Nähe der oberbayerischen Stadt Wasserburg am Inn, die Container-Module stehen etwas außerhalb im Ortsteil Hochhaus , der Briefkasten hängt gut sichtbar rechts neben der Eingangstür. Wie der Postbote diesen übersehen kann? Beim Bundesamt kann man "leider keine Aussagen treffen, dazu liegen uns keine Erkenntnisse vor". Und: "Die Postzustellung liegt nicht in der Zuständigkeit des Bundesamtes."

Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge war der Adressat unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln. Doch die Namen der Servars stehen auf dem Briefkasten an der Unterkunft. (Foto: Christian Endt)

Fest steht nur: Die Sendung gilt für die Behörde als zugestellt. Nachzulesen ist das im Asylgesetz in Paragraf 10, Zustellungsvorschriften: "Kann die Sendung dem Ausländer nicht zugestellt werden, so gilt die Zustellung mit der Aufgabe zur Post als bewirkt, selbst wenn die Sendung als unzustellbar zurückkommt." Sarvar versteht nicht, was er falsch gemacht haben soll. "Wieso werde ich jetzt für die Fehler anderer bestraft?" Genauso wenig wie er die Fristen nachvollziehen kann, die ihnen das Bundesamt gesetzt hat: eine Woche Zeit für die Ausreise, innerhalb von zwei Wochen können sie Klage gegen den Bescheid einreichen.

Es ist kein Wunder, dass er das nicht versteht - auch sein Anwalt Roland Kuhnigk kann es nicht, den hat die Familie inzwischen um Hilfe gebeten. Er sagt: "Viele der Regeln und Fristen sind nicht ausgewogen und nicht aufeinander abgestimmt." Dies führe teils zu solchen absurd erscheinenden Anordnungen. Kuhnigk beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Ausländer- und Asylrecht, seine ersten Mandanten waren einst Kosovo-Albaner, und er hat eine gewisse Erfahrung mit den administrativen Mühlen, in die flüchtende Menschen geraten.

Es sei ja auch völlig überzogen, den Menschen sofort mit der Abschiebung zu drohen, nur weil sie einen Termin nicht eingehalten haben, wofür es gute Gründe geben mag. Im Falle der Familie von Gulam Sarvar hat er Klage eingereicht. Außerdem einen Antrag auf aufschiebende Wirkung, damit die Familie eben nicht schon fort sein muss. Eigentlich müsste über den Antrag innerhalb einer Woche entschieden sein, sagt Kuhnigk. Aber Nachfragen bei Gericht hätten ergeben, dass diese einfach nicht hinterherkommen. So zieht sich alles. Die Verfahren. Die Unsicherheit.

Die Unsicherheit, sie zermürbt. Aber sie wird weniger an diesem Donnerstagnachmittag in Rosenheim. Gulam Sarvar muss zum Landratsamt, dieser Brief war angekommen. Die Mitarbeiter der Ausländerbehörde haben ihre Arbeitsplätze in den Containern vor dem Hauptgebäude. Wer Geld abholen will, muss eine Wartemarke beim Securitydienst ziehen. Wer einen Termin bei einem Sachbearbeiter hat, der zeigt die Einladung vor und geht in den ersten Stock.

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Dort sind die Büros eher spartanisch ausgestattet, für die Besucher gibt es keine Sitzplätze. Dafür kommt für Sarvar aber auch die wichtige Information prompt: Die Familie darf weiter in der Unterkunft bleiben, sie bekommt auch weiterhin ihr Geld. "Und natürlich kommt jetzt keine Polizei und nimmt sie einfach mit, um sie in einen Flieger zu setzen", sagt die Mitarbeiterin. Das war Gulam Sarvars größte Sorge.

In der Behörde kennt man die Familie schon länger, man konnte sich nicht vorstellen, dass sie diese die Anhörung absichtlich verpasst habe. Die Mitarbeiterin hatte deshalb "zur Klärung des Sachverhalts" eingeladen. Nachdem die Familie bereits einen Anwalt eingeschaltet hat, gibt es derzeit aber nicht viel zu klären. Auch die Mitarbeiterin schätzt die Erfolgsaussichten der Klage als gut ein, weil erkennbar sei, dass kein Fehler seitens der Familie vorliegt.

Wieder in dem kleinen Zimmer in den Containern in Edling, hier spiegelt sich immer auch das große Thema des Jahres, das die Flüchtlinge für Deutschland waren - und wohl auch 2017 sein werden. Wie seltsam manche Debatten dabei sind, wird bei einem Treffen am 20. Dezember besonders deutlich. Es ist der Tag nach dem Anschlag in Berlin, der Sachstand ist an diesem Vormittag noch, dass ein polnischer Mann tot ist und ein pakistanischer Flüchtling der Tat verdächtig.

Sarvar weiß, wie schnell sich die Stimmung ändert

Gulam Sarvar verfolgt alle aktuellen Nachrichten zwar immer gut, nun hat er aber nur von dem polnischen Mann gehört. Das Geschehene ist ohnehin schrecklich, aber für ihn bekommt es noch viel größeren Schrecken durch die Tatsache, dass er jetzt erfährt, dass ein Pakistaner der Täter sein soll (der ja am Abend wieder freigelassen wird, weil es sich um einen Irrtum handelt). Pole oder Pakistaner? Ein womöglich westlicher Hintergrund oder ein muslimischer? Es kann die Deutungshoheit dramatisch verändern. Das weiß Sarvar.

Und er weiß, dass Pakistan und Afghanistan in den Augen vieler Menschen in einen Topf gehören. "Das sind traurige Nachrichten. Und sehr unerfreuliche für uns", sagt er. Er weiß um die Stimmung in Deutschland. Dass viele Menschen es kurz zuvor für richtig gehalten haben, als ein Flugzeug mit abgelehnten Asylbewerbern nach Afghanistan startete.

"Die meisten wollen zurück, wenn der Krieg vorbei wäre", sagt Gulam Sarvar. Wenn. Es sind momentan viele Wenns im Leben der Familie. Momentan bleibt ihnen wieder einmal nichts anderes übrig als zu warten, bis das Verwaltungsgericht über die Klage entscheidet. Laut Statistik hat das im Zeitraum von Januar bis August 7,7 Monate gedauert.

© SZ vom 31.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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