Flüchtlinge:Neuanfang im Nirgendwo für Familie Sarvar

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Die afghanischen Flüchtlinge Fazila Asif und ihr Mann Gulam Sarvar leben mit ihren beiden Kindern in der Containerflüchtlingsunterkunft in Edling. (Foto: Johannes Simon)

Wieder ein Umzug: Edling ist die nächste Station der afghanischen Flüchtlingsfamilie - und abermals müssen die Eltern mit ihren Zwillingen ganz von vorne beginnen.

Von Katharina Blum und Nina Bovensiepen

Auf dem Tisch ist nun allmählich kein Platz mehr, weil Fazila Asif immer noch weitere Teller hereinträgt. Ein Teller mit Spinat, einer mit gebratenen Tomaten und Auberginen, einer mit Eisbergsalat und Mais, einer mit einer riesigen Portion Reis, einer mit Brot, für die zwei Kinder ist Joghurt da und Apfelsaft. Fazila Asif und ihr Mann Gulam Sarvar haben aufgetischt für die deutschen Gäste, denn so ist es in ihrer Heimat üblich. Egal, ob jemand reich oder arm ist: Wenn Besuch kommt, wird der Gast üppig bewirtet.

So bleibt dann einiges übrig an diesem Abend in Zimmer Nummer 5 in der Containerflüchtlingsunterkunft in Edling, in der Fazila Asif mit ihrem Mann Gulam Sarvar und den Zwillingen Maivand und Maihan, zweieinhalb Jahre alt, gelandet ist. Obwohl sie so reichlich aufgetischt haben, entschuldigen sich die Gastgeber. Eigentlich hätten sie gerne Originalspeisen aus ihrer Heimat Afghanistan gekocht. Aber in Edling haben sie die Zutaten dafür nicht bekommen. "Die gibt es in einem Geschäft am Hauptbahnhof in München", sagt Gulam Sarvar. Und München, das ist für sie innerhalb von wenigen Tagen in größere Ferne gerückt.

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Edling, ein Ort mit viereinhalbtausend Einwohnern in der Nähe der schmucken oberbayerischen Stadt Wasserburg am Inn, ist Station Nummer vier von Gulam Sarvar und seiner Familie, seit diese sich am 11. November 2015 zur Flucht aus Afghanistan entschlossen haben. Fast ein Jahr ist vergangen, seit sie das von mörderischen Auseinandersetzungen zerrissene Land verlassen haben. Norwegen, München, Fürstenfeldbruck waren die Stationen, die bisher zu Fixpunkten in ihrem neuen Leben wurden.

Und nun also Edling. In dem Ort gibt es wie in so vielen anderen einen Helferkreis. 70 Aktive zählt dieser hier, ein sagenhafter Betreuungsschlüssel bei rund 60 Flüchtlingen in unterschiedlichen Unterkünften. Die Helfer geben Deutschunterricht, begleiten die Flüchtlinge bei Amtsbesuchen - und beim nächsten offenen Montagstreff werden Plätzchen gebacken.

Es gibt aber auch die anderen, die nicht wollen, dass Flüchtlinge hier leben. Als im Januar die Container-Module im Ortsteil Hochhaus aufgestellt wurden, gründete sich eine Bürgerwehr. "Das hat damals einen Mordsaufschrei gegeben", sagt Edlings Bürgermeister Matthias Schnetzer. "Aber es klappt alles hervorragend - und von der Bürgerwehr hört man schon lange nichts mehr." Gesehen hat die ohnehin noch nie jemand, gehetzt wird in den sozialen Netzwerken.

Dass die afghanische Familie aus der Kaserne in Fürstenfeldbruck hierher verlagert würde, erfuhr sie wenige Tage vor der Abfahrt. Beziehungsweise, so wie Gulam Sarvar es erzählt, wurde ihnen nicht Edling als Destination genannt, sondern "separate Räumlichkeiten in der Nähe von Rosenheim". Das stellt sich nun dar als Zimmer Nummer 5 im Container auf dem platten Land. Neonbeleuchtung an der Decke, grüner PVC-Boden, ein paar Aluschränke, ein Holztisch mit Stühlen, Betten, ein Sofa und ein kleiner Kühlschrank machen im Wesentlichen die Einrichtung aus, in der ein gutes Dutzend Familien wie auch einzelne Asylbewerber untergebracht sind. Es gibt Gemeinschaftsküchen, Gemeinschaftstoiletten und Gemeinschaftswaschräume, einen Lern- und einen Gebetsraum. Letzterer wird nicht benutzt, daher würden die Bewohner ihn gerne in ein Spielzimmer für die Kinder umwandeln, aber das muss erst genehmigt werden.

"Sie werden uns dort definitiv töten"

Wer die Menschen in den Containern besucht, bekommt ein Gefühl dafür, was es bedeutet, die Flucht zwar geschafft zu haben- aber damit noch lange nicht in einem neuen Leben angekommen zu sein. Die Familie von Gulam Sarvar etwa macht in den ersten Tagen in Edling das, was sie inzwischen schon drei Mal gemacht hat: Sie versucht, ein bisschen heimisch zu werden. Sie schafft Dinge des täglichen Lebens an, die sie auf der Reise von einer zur nächsten Station immer wieder zurückgelassen hat, weil es nicht vorgesehen ist, Fahrräder oder anderes sperriges Hab und Gut zwischen Flüchtlingsunterkünften hin und herzuschleppen. Außerdem orientieren sie sich. Wo ist der nächste Aldi? Wo das Amt, auf dem sie erfahren können, ob es irgendeinen Fortgang in ihrem Asylverfahren gibt? Wo erhalten sie das Geld, das ihnen zusteht? Wo gibt es Sprachkurse? Wer erzählt ihnen, was hier anders ist als in der vorherigen Unterkunft?

Banale alltägliche Dinge sind es, nur dass diese sich in wenigen Monaten immer noch einmal wiederholen. Und sie spielen sich allesamt vor der einen völlig unklaren großen Zukunftsfrage ab: ob die Familie je wirklich heimisch in Deutschland werden darf - und falls ja, wann sie das erfahren wird.

34 Quadratmeter groß ist der Containerraum, in dem die Flüchtlingsfamilie Sarvar lebt. (Foto: Johannes Simon)

Gulam Sarvar weiß nach wie vor nur, dass er nicht freiwillig nach Afghanistan zurückgeht. "Sie werden uns dort definitiv töten", sagt er. Alles sei besser als der Gedanke an eine Rückkehr, deshalb klagt er auch nie über Beschwerlichkeiten, die es zweifelsohne gibt. Aber ob er glaubt, dass sie eine Chance auf Anerkennung haben - auf diese Frage weicht er aus. Die Hälfte der etwa 26 000 afghanischen Asylbewerber, über deren Anträge das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bis Ende September entschied, wurde als schutzbedürftig anerkannt, die andere Hälfte abgelehnt. Aus Bayern wurden nach Auskunft des Innenministeriums bis Anfang Oktober 16 Afghanen abgeschoben.

Und Gulam Sarvar kann ja nicht wissen, wie viel es zählen wird, wenn er angibt, dass er in Afghanistan Mutter, Vater, einen Bruder und eine Schwester verloren hat. Wenn er sagt, dass er dieses Land niemals seinen Söhnen zumuten will. Vor allem diese Frage arbeitet in dem Vater: Wie wird die Zukunft für seine Kinder aussehen? Die Zukunft von Maivand und Maihan.

Sarvar ist entschlossen, das Beste dafür zu tun, selbst wenn es schmerzhaft wäre. Er sagt, dass er seine Kinder sogar lieber in Deutschland zur Adoption frei geben würde, bevor er sie mit zurücknähme. Wie seine Frau über solch eine Aussage denkt, das bleibt bei dem Abendessen im Dunkeln.

Einmal, weil Fazila Asif anders als ihr Mann kein Englisch spricht. Und wohl auch, weil bei dem Ehepaar eine recht traditionelle Rollenverteilung greift. Der Mann hat das Wort und trifft die zentralen Entscheidungen - so begrenzt, wie er das in diesem neuen Leben noch kann.

Gulam Sarvar beschwert sich nicht. Alles sei besser als der Gedanke an eine Rückkehr. (Foto: Johannes Simon)

Das ist wohl auch das Schwierigste in dieser neuen Heimat: Sie verdammt so viele Menschen zur Passivität. Gulam Sarvar geht es so, wie es vielen geht, die irgendwann voll im Leben standen und die es dort herauskatapultiert in einen Zustand des Nichtstunkönnens, des Wartens, des Abhängigseins von anderen.

"Zuerst ist vieles neu, aber nach drei Monaten, wenn die meisten Dinge erledigt sind, dann wird eine Tagesstruktur enorm wichtig", sagt Andrea Betz von der Inneren Mission, die in München und im Landkreis rund 7500 Flüchtlinge in 21 Häusern betreut, in der Bayernkaserne auch Familie Sarvar. "Vor allem bei den männlichen Flüchtlingen haben wir beobachtet, wenn sie wieder etwas mit den eigenen Händen tun können und Geld verdienen, dann hat das Leben für sie wieder Sinn."

Auch Gulam Sarvar würde zu gerne arbeiten, völlig egal was. Aber das geht nicht, noch nicht. Sobald Flüchtlinge ihren Asylantrag gestellt haben, haben sie ein Beschäftigungsverbot von drei Monaten. Danach dürfen sie arbeiten, wenn sie die Erlaubnis von der Ausländerbehörde bekommen. Und die fehlt dem Familienvater noch. "Wir sagen, auf jeden, der nicht arbeitet, wartet das Grab", sagt Sarvar. Wer arbeite, auf den warteten dagegen die Familie, Freunde, ein erfülltes Leben.

Auf ihn und seine Familie wartet derzeit immerhin jeden Tag ein Tag in einem Land ohne Krieg. Aber es wartet jeden Tag auch viel Zeit, die zäh zu füllen ist. 24 Stunden, in denen die Familie beisammen ist, meistens in dem 34 Quadratmeter großen Containerraum. Mit Zukunftsängsten, mit den Traumata im Kopf, mit viel Zeit, mit wenig Aufgaben. Es sei denn, es kommen mal Gäste zum Essen vorbei.

Es ist alles ziemlich ungewiss in diesem Leben. Und trotzdem versichert Gulam Sarvar am Abend, als die Besucher gehen: Das nächste Mal wird afghanisch gekocht.

© SZ vom 29.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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