Nachwirken eines Skandals:Ein Ende in Ettal

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Das Kloster Ettal ist eine der Einrichtungen, in denen offenbar zahlreiche Kinder misshandelt wurden. (Foto: Florian Peljak)

Die Benediktiner schließen ihren Internatsbetrieb im Kloster Ettal - es gibt zu wenige Schüler. Ein Grund dafür sind die Missbrauchsfälle, die 2010 ans Licht gekommen waren.

Von Anna Günther und Matthias Köpf, Ettal

Um ihr traditionsreiches Internat zu retten, hatten die Benediktiner vor fünf Jahren sogar mit einer Tradition gebrochen. Man werde vom nächsten Schuljahr an auch Mädchen aufnehmen, hieß es Anfang 2016, und kurz darauf kündigten die Mönche eine Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Skiverband an. Um sportliche Angebote für die Schüler zu schaffen, lautete damals die Begründung - und um Eltern aus ganz Deutschland und der halben Welt einen weiteren Anreiz zu bieten, ihre Kinder nach Ettal zu schicken. Trotz allem nach Ettal zu schicken, so hätten es die Benediktiner damals auch formulieren können. Denn der 2010 ans Licht gekommene Skandal um die Misshandlungen und den sexuellen Missbrauch, die über die Jahrzehnte hinweg etliche Ettaler Zöglinge hatten erleiden müssen, hatte das Internat viel von seinem guten Ruf gekostet. Jetzt wird er das Internat wohl die Existenz kosten. 2024 soll der Ettaler Internatsbetrieb auslaufen. Das Gymnasium im Kloster wollen die Benediktiner erhalten.

Der Schulbetrieb in Ettal unterscheidet sich jetzt in der Pandemie nicht groß von dem in anderen Schulen. Die allermeisten der rund 250 Schüler, darunter längst viele Mädchen, lernen derzeit zu Hause. Das gilt genauso für den Großteil der zuletzt 35 Internatsschüler. Nur neun Schüler harren derzeit im Internat aus. Fünf von ihnen kommen aus China, ihr Heimweg ist nicht nur weit, sondern praktisch blockiert. Seine internationale Ausstrahlung wird das Ettaler Gymnasium mit dem Ende des Internats verlieren, und wohl auch seinen überregionalen Ruf als etwas elitäre Kaderschmiede.

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Dass die Benediktiner das Internat aufgeben, hat auch wirtschaftliche Gründe. Der auf 28 Brüder zusammengeschmolzene Konvent war und ist immer auch eine Wirtschaftsgemeinschaft mit vielen Betriebszweigen. Wirtschaftlich leiden die meisten davon schwer unter der Corona-Pandemie, und das Internat, in dem für monatlich 1250 Euro Kinder sieben Tage die Woche leben, essen, ihre Freizeit verbringen und an sechs Tagen unterrichtet werden, schreibt auch nur rote Zahlen. Zumal die Internatsschüler in den vergangenen Jahren immer weniger wurden. Zuletzt lebten nie mehr als drei Dutzend Schüler im Kloster. Fünftklässler kamen kaum noch dazu. 2014/15 war es zum Beispiel kein einziger, im Jahr darauf ganze drei.

"Diese Entscheidung ist uns als Gemeinschaft und mir als Abt überhaupt nicht leicht gefallen, weil auch emotional einiges dranhängt", sagt Barnabas Bögle, der in den Achtzigerjahren selbst einer von damals noch gut 200 Ettaler Internatsschülern war und heute neben seinem Amt als Abt immer noch im Gymnasium unterrichtet. "Wir wissen, dass die Schließung für einige der aktuellen Internatsschüler ein schwerer Einschnitt ist, weswegen wir die lange Übergangsphase eingeplant haben." Das Ende des Internatsbetriebs soll mit dem Auslaufen des achtjährigen Gymnasiums zusammenfallen, ein Wechsel in ein anderes Internat wird dann nur für eine Hand voll Schüler nötig sein. Ein Ort der Bildung soll das Kloster Ettal gemäß der benediktinischen Tradition aber unbedingt bleiben - durch Investitionen ins Gymnasium und durch einen Ausbau des Tagesheims, in dem die Schüler bis zum Abend betreut werden, aber nicht übernachten können.

Auch wenn Ettal für sich steht und der Skandal vor elf Jahren nicht nur an katholischen Internaten unangenehme Fragen aufkommen ließ, so liegt das Ende des Internats auch im Trend: Die Zahl der Internatsschüler geht seit Jahrzehnten zurück, das hat auch mit der steigenden Zahl der Gymnasien zu tun. 432 gibt es derzeit im Freistaat. War es früher üblich, die besonders gescheiten Landkinder ins Internat zu schicken, damit sie gymnasiale Bildung bekommen, müssen Schüler heute nur in die nächste Kreisstadt fahren. "Ein massiver Strukturwandel", sagt Franz Rußer, Vorsitzender des Verbandes Bayerischer Katholischer Internate, Tagesbetreuungen und Seminare (BayKits). Gerade auf dem Land breche die Nachfrage weg. "Leute, die sich jetzt fürs Vollinternat entscheiden, gehen bewusst diesen Weg. Weil sie selbst dort waren oder weil sie die Kinder daheim nicht betreuen können."

60 katholische Internate gab es laut Rußer vor 20, 30 Jahren in Bayern. Aber selbst die Internate renommierter Schulen schlossen zuletzt, oft nach Jahrhunderten. Die letzten Internatsschüler der Benediktinerabtei Metten bei Deggendorf machten 2017 Abitur, die Benediktiner der Erzabtei St. Ottilien nordwestlich des Ammersees stellten 2016 den Internatsbetrieb ein. Die Gymnasien bestehen weiter. Heute sind zehn katholische Internate mit etwa 500 Schülern im Vollbetrieb, darunter "Selbstläufer" wie das Internat der Domspatzen in Regensburg. Die anderen "halten sich", sagt Rußer. In der Abtei Schäftlarn, wo Rußer arbeitet, ist Schulleiter Wolfgang Sagmeister stolz, dass unter 30 Buben im Internat auch wieder ein Dutzend "Zwergerl" aus der Unterstufe leben. Gerade von den Kleinen könnten sich die "Mamas" heutzutage oft schlecht trennen.

Die Regensburger verzeichnen tatsächlich mehr Internatsschüler als andere: 95 Buben leben und lernen im Internat. Die Nische der musikalischen Ausbildung helfe, sagt Internatsdirektor Rainer Schinko. Allerdings wirkt sich Corona aus: In wirtschaftlich unsicheren Zeiten scheuten Eltern ein langfristiges Investment - in der fünften Klasse sind nur sieben Internatsschüler. Üblich sei das Doppelte.

Zwar geht die Nachfrage bei Internaten zurück, aber christliche Schulen bleiben beliebt. In Ballungsräumen wie München gibt es lange Wartelisten. Einen Grund dafür sehen BayKits-Chef Rußer und das Katholische Schulwerk Bayern in der Ganztagsbetreuung, die mehr Qualität bieten will als an staatlichen Schulen. "Die Tagesinternate brummen", sagt auch Schäftlarns Schulleiter Sagmeister. Alle 550 Schäftlarner Gymnasiasten bleiben bis zum späten Nachmittag, betreut von ihren Lehrern und dem Psychologen Rußer.

Auch die Ettaler Benediktiner wenden sich nun diesem Trend zu, der ihrem Internat schon lange zugesetzt hat: dem großflächigen Ausbau der Ganztagsschulen.

© SZ vom 04.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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