Die Heimkinder basteln sich eine eigene Welt. Auch der inzwischen achtjährige Grube schließt Freundschaften, um seine Einsamkeit zu teilen, um gemeinsam mit den anderen Kindern der Isolation zu entfliehen. Doch die Geborgenheit trügt. An einem Abend im November 1941 werden 23 Kinder mit dem Bus abgeholt - und nach Litauen gebracht, wo sie von den Nazis umgebracht werden. Grube entgeht diesem Schicksal, weil er "nur Halbjude" ist und sein Vater sich weigert, sich von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen. Doch Anita, Ernst Grubes beste Freundin im Kinderheim, wird deportiert. "Da hat alles geweint", erinnert er sich.
Grube erzählt schon eine Stunde lang. Die Hände klemmen immer noch zwischen den Knien und halten die Teetasse umschlossen. Die Tasse ist noch voll, er hat keinen Schluck getrunken. Der Tee ist kalt. Inzwischen hat sich Helga Hanusa zu ihm gesetzt, seine Frau. Sie kennt die Erzählungen ihres Mannes, hat alles schon hundertmal gehört - und hört trotzdem zu, als Grube von Milbertshofen erzählt. Vom engen, feuchten Barackenlager, in das die Heimkinder im Frühjahr 1942 gebracht werden.
Er hat nicht gesehen, wie nach und nach Jüdinnen und Juden abgeholt und nach Theresienstadt gebracht wurden. Aber er hat die Schreie gehört, die Unruhe gespürt. Ob er Todesangst hatte? "Nein", sagt Grube, "es braucht keine Todesangst, wenn man ausgegrenzt und diskriminiert wird. Es braucht keine Todesangst, wenn man keinen Blick mehr für die Zukunft hat."
Vom Leben ausgegrenzt, entwürdigt, ohne Zukunftsperspektive - all das, sagt Grube, gibt es noch immer, auch in München. Er meint das Elend vieler Flüchtlinge, die unter teils menschenunwürdigen Bedingungen in Asylunterkünften leben: "Zu viert, zu fünft oder zu sechst in einem kleinen Zimmer, wo gerade so die Betten reinpassen. Es ist wichtig, das Elend dieser Menschen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen", sagt Grube. Das ist auch Teil seiner eigenen Öffentlichkeitsarbeit.
Wenn Grube in Schulen von damals erzählt, dann auch um bewusst zu machen, dass heute noch Minderheiten erniedrigt werden: Ausländer, Behinderte, Hartz-IV-Empfänger. "Denn es fängt immer klein an", sagt er. So wie damals: Am Anfang wurde geschimpft und gespuckt, am Ende gefoltert und gemordet.