Ernst Grube wirkt müde. Nicht von den Geburtstagsvorbereitungen, nicht von den Besuchen in den Schulen. Was ihn ins Mark getroffen hat, ist die Reise. Vor einem Jahr ist er an die Orte gefahren, die ihn bis heute nicht loslassen. Den Schülern hat er hundertfach von diesen Orten erzählt - von der eigenen Angst in Theresienstadt, vom Gastod der Verwandten in Belzec. Nie mit Routine, aber doch mit einer gewissen Gewöhnung, das gibt er zu. Die Reise hat alles verändert. Die Gewöhnung ist weg, die Verzweiflung wieder da. Er weiß jetzt, dass Zeit keine Wunden heilt.
Am Sonntag hat Grube in München seinen 80. Geburtstag gefeiert. Eine Woche vorher sitzt er auf dem Sofa in seiner Wohnung in Regensburg. Er sitzt ganz vorne auf der Sofakante, zwischen die angewinkelten Knie hat er seine Hände geklemmt, die eine Tasse Tee umschließen. Er trägt graue Filzpantoffeln und wenn er lächelt, sieht das immer ein bisschen verschmitzt aus, weil seine Augen dann zu kleinen Schlitzen werden. Es ist das Lausbubengesicht eines Mannes, der kein Lausbub sein durfte. Weil nicht er die anderen geärgert hat, sondern die anderen Kinder ihn. Sie haben ihn bespuckt und beleidigt. Weil seine Mutter eine Jüdin war.
Grube ist Zeitzeuge. Zeuge einer Zeit, die für die meisten vorbei ist und für Grube nie vergeht. Als Zeitzeuge besucht er Schulen, Vereine, erzählt auf Veranstaltungen, macht Führungen durch die KZ-Gedenkstätte in Dachau. Er erzählt dann von seinen Kindheitserinnerungen. Erinnerungen, von denen er nicht immer weiß, ob es Erinnerungen sind oder Vergangenheit, die er rekonstruiert hat: "Wenn ich heute Bilder sehe vom Abbruch der Synagoge, dann weiß ich nicht: Habe ich das mit eigenen Augen gesehen oder nicht?" Als die Münchner Synagoge im Juni 1938 abgerissen wird, ist Grube fünf Jahre alt. Und egal, ob er sich nun erinnert oder nicht: Er hat zugesehen. Er musste zusehen. Weil er in der Herzog-Max-Straße gewohnt hat. Dort, wo damals die alte Synagoge stand.
Kurz nach dem Abriss müssen auch der fünfjährige Grube, seine Eltern und seine Geschwister weg aus der Herzog-Max-Straße - weil die Nazis die Häuser der jüdischen Gemeinde "entmieten". Die Kinder werden von ihren Eltern getrennt, kommen in ein jüdisches Kinderheim nach Schwabing.
Von Oktober 1941 an müssen die Heimkinder den gelben Judenstern tragen, dürfen nicht mehr ins Kino, nicht mehr Tram fahren, nicht mehr zur Schule gehen. "Dieser Stern ist wohl der erste Moment der bewussten Erkenntnis gewesen: Die machen was Böses", sagt Grube und erzählt davon, dass er als kleiner Bub plötzlich nicht mehr mitspielen durfte, weil die anderen sagten: "Hau ab, Saujud'!"
Was Grube jetzt schildert, sind keine Rekonstruktionen. Es sind Erinnerungen eines Kindes, das die Welt nicht mehr versteht.