Sandra Altmeier trägt gerne Samtkleider, ihren Kaffee trinkt sie mit Kardamom aus bunten Tontassen, jede ein wenig anders gebeult. Sie lebte lange in Indien, arbeitete mit Flüchtlingen. Die CSU kam ihr nicht als erstes in den Sinn, wenn sie in der Wahlkabine saß. Dann aber erlebte sie diesen Tag im Juni. Wäre Markus Söder ihr da über den Weg gelaufen, sie hätte den Ministerpräsidenten innig gedrückt.
Söder, das war für sie der Mann, der ihr ein neues Leben schenkt. Ein Leben, in dem sie vielleicht wieder arbeitet, in dem sie nicht die einzige auf dem Land ist, die kein Auto hat und ihre Tochter mit dem Fahrrad zur Kita bringen muss, 24 Kilometer. Söder lächelte sie von den Plakaten an, sie lächelte zurück und ging durch die Welt wie auf Wolken.
So war das im Juni. Jetzt ist es November, feuchter Nebel zieht über die Felder in Oberbayern. Altmeier, die eigentlich anders heißt, macht in ihrer kleinen Wohnung in Gstadt am Chiemsee ihren Kaffee mit Kardamom, den gönnt sie sich. In der Küche hat sie den Holzofen eingeheizt, in den anderen Zimmern ist es kalt. Wärme kostet Geld und das hat sie nicht - obwohl es Söder doch versprochen hatte.
300 Euro mehr im Monat sollte sie durch sein neues Familiengeld haben. Sie hat es nicht und fühlt sich betrogen. Jetzt will die 41-Jährige vor Gericht ziehen, so wie etliche Hartz IV-Empfänger in Bayern. Altmeier hat drei Kinder, die Kleinste ist zwei Jahre alt, die anderen acht und zehn. Genau 1987,76 Euro hat sie im Monat für sich und drei Kinder. Davon muss alles bezahlt werden, von der Wohnung bis zu Essen. 300 Euro mehr, das ist nicht ein schönes Kleid oder eine Woche länger Urlaub. Ihre Kleider sind gebraucht, Urlaub kennen ihre Kinder nicht. 300 Euro, das heißt für sie in der Mitte des Monats keine Angst mehr haben, wie sie es zum Ende schafft.
Das Familiengeld aber wird mit ihren Hartz-IV-Leistungen verrechnet, es löst sich einfach auf. So will das nicht Söder, sondern so wollen es die Juristen des Bundessozialministeriums, das von SPD-Mann Hubertus Heil geführt wird. Bis jetzt gab es deshalb viel Empörung: Die SPD zeigte auf Söder, der es nicht schaffe, ein Gesetz juristisch einwandfrei zu formulieren. Söder höhnte, ausgerechnet die SPD nehme den Ärmsten Geld. Noch immer streitet der Freistaat mit Berlin. Altmeier will, dass etwas passiert.
Etwa 120 Klagen hat ihr Anwalt Marc Schneider für seine Klienten gegen die Bescheide ihrer Jobcenter von München bis Bayreuth eingereicht. Etwa 80 Prozent von ihnen sind alleinerziehende Mütter wie Altmeier. Wie die Richter entscheiden, kann niemand voraussagen. Die Urteile aber gelten immer nur für den Einzelfall und können je nach Gericht unterschiedlich ausfallen. Erst mit einem Urteil des Bundessozialgerichts könnte die Regelung gekippt werden, so Schneider. Nur wer geklagt habe, bekomme dann das Familiengeld rückwirkend ausgezahlt. Bis dahin könne es Jahre dauern.
Altmeier will durchhalten. Es geht ihr um das Geld, fast noch wichtiger aber ist ihr etwas anderes - Anerkennung. Sie hasst dieses Wort: Hartz IV. Es klingt nach Mutter mit Kippe im Mund und Kind vor der Glotze. In Altmeiers Küche leuchtet über dem Fenster eine Lichterkette aus Filzblumen, die sie für ihre Kinder gebastelt hat. Auf dem Holzbüffet stehen selbst gebackene Dinkel-Kakao-Plätzchen. Ihre Kleine tapst auf sie zu, wankend, so wie es Zweijährige tun in Strumpfhosen und mit Windelhintern. Blick nach oben zur Mama, ein Kinderjuchzen, dann tapst sie weiter. Altmeier aber hat da was gerochen. Sie muss schnell los, die "Kakastrophe" beheben; dann erzählt sie, wie so ein Tag einer alleinerziehenden Mutter mit drei Kindern aussieht, die ja "nichts arbeitet".
5.30 Uhr: Sie steht auf, heizt ein, macht Frühstück. 7.30 Uhr: Sie bringt die Kinder zum Schulbus, dann in die Krippe. 12.30 Uhr: Kinder abholen und bespaßen. Ohne Geld kein Kino, kein Zoo, kein Schwimmbad. Wenn sie sich beschweren, sagt sie, dass der eigentliche Reichtum doch in ihrem Inneren wohne. Sie sagen dann, sie wollen beides: innen und außen reich sein. 20 Uhr: Die Kinder schlafen, Altmeier putzt, wäscht. In ihrer Küche hängt eine Postkarte: "Frieden finden im Chaos" 0.30 Uhr: Sie liegt im Bett und kann nicht schlafen. Wie soll sie das alles schaffen?
Etwa vier Stunden hat sie jeden Tag ohne Kinder. Sie sind im Nu vorbei. Wer kein Geld hat, muss viel organisieren. Waschmaschine kaputt? Altmeier repariert sie selber. Zweimal im Monat fährt sie zur Tafel, weil das Geld fürs Essen nicht reicht. Das dauert zwei Stunden. Sie muss zum Jugendamt, weil der Vater ihrer Tochter nicht zahlt. Sie muss eine neue Wohnung finden, weil sie bis Januar ausgezogen sein sollen. Drei Kinder? Altmeier sagt: "Ich bekomme nicht einmal Absagen."
Fast zehn Jahre ist sie arbeitslos, seit ihrem ersten Kind. Sie ist Ergo-Therapeutin "mit Diplom", das ist ihr wichtig. Bevor sie Mutter wurde, verdiente sie gut bei einem Neurologen. Sie reiste viel, arbeitete ehrenamtlich in der Entwicklungshilfe in Indien und Afghanistan. "Uns Frauen wird suggeriert, dass wir alles machen können, aber wenn wir Kinder haben, ist es mit der Freiheit vorbei", sagt sie. Altmeiers Männer ließen sie am Ende immer im Stich. Sie hat viel für sie aufgegeben, vielleicht zu viel, einmal sogar ihren Job. Nach dem ersten Kind hat sie gleich das zweite bekommen, obwohl es schon mit einem schwer war. Sie hat bestimmt nicht alles richtig gemacht, aber sie versucht, sich freizustrampeln.
Die Zusage für einen Job als Behindertenassistentin hatte sie schon, dafür aber hätte ihr früherer Partner ein paar Tage im Monat die Kinder nehmen müssen. Hat er nicht. Aus Hartz IV wäre sie dann auch nicht rausgekommen. Das Geld, um drei Kinder alleine durchzubringen, bekäme sie wohl nie zusammen, allein die Nachmittagsbetreuung für ihre Schulkinder kann sie sich nicht leisten. Egal was sie macht, egal wie viel sie rennt, sie kommt nie weiter, so fühlt sich das an.
Zwei Drittel aller Alleinerziehenden mit drei oder mehr Kindern in Deutschland sind Hartz IV-Empfänger. 35 Prozent der Erwerbsfähigen unter ihnen sind Aufstocker, das Geld reicht also nicht zum Leben. Haben sie noch Pech, weil etwa der Vater nicht zahlt, "gibt es regelmäßig kein Entrinnen aus dem SGB-II-Bezug", heißt es in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von 2016. "Am eigenen Schopf" könnten sie sich kaum aus ihrer Lage befreien.
In Bayern wollte der Staat mit dem Familiengeld helfen. Ein bisschen mehr Luft zum Atmen, ein wenig Ruhe im "Überforderungswahnsinn", darauf hatte Altmeier gehofft. Ruhe hat ihr auch das Jugendamt verordnet. Ihre zwei Ältesten sind seit ein paar Tagen im Heim, hoffentlich nur, bis sie eine Wohnung gefunden hat. Sie sieht sie am Wochenende und zu ihren Geburtstagen.
Zehn ist ihre Tochter gerade geworden. Altmeier nimmt den Blumenkranz in die Hand, der von der Feier noch auf dem Tisch liegt. Wenn sie von ihr erzählt, schimmern zum ersten Mal Tränen in ihren Augen. Schnell dreht sie sich weg. Sie will kein Opfer sein, keine, die nur jammert, sondern eine, die anpackt. Nur: Sie hat den Glauben verloren, dass es noch einen Ausweg gibt. Auch deshalb ist ihr die Klage so wichtig und die Hoffnung, einmal zu den Gewinnern zu gehören.