Gülen-Netzwerk:"Größere Macht als die sagenhaften Illuminati"

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Ein Anhänger der Gülen-Bewegung demonstriert 2020 auf dem Karlsplatz in München. (Foto: Privat)

Die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen hat in Schwaben Fuß gefasst. Ihre Mitglieder inszenieren sich als türkische Oppositionelle und Demokraten, doch Nachfragen blocken sie ab.

Von Stefanie Schoene, Augsburg

Etwa 400 Männer und Frauen haben sich an diesem kalten Oktobervormittag auf dem Münchner Karlsplatz versammelt. Sie sind Flüchtlinge der Gülen-Bewegung und aus Schwaben angereist. Seit 30 Jahren schon existiert das Netzwerk um den muslimischen Prediger Fethullah Gülen in Bayern, aber erstmals probt es den Protest. Absperrgitter umzäunen das Areal mit 30 weißen Plastikstühlen. Die Teilnehmer halten Schilder mit Botschaften hoch: "Die Menschheit starb in einem weißen Plastikstuhl" - "Stoppt Erdoğan". Das Foto des toten Polizeikommissars, der auf einem Stuhl in einer türkischen Zelle sitzt, ging um die Welt.

Veranstalter der Kundgebung sind die Vereine "Frohsinn Bildungszentrum Augsburg", "Rumi Augsburg Kulturforum" und die von 330 geflohenen türkischen Akademikern gegründete "Initiative für Flüchtlinge Augsburg" (Iffa). Dass sie alle sich zum Prediger Gülen bekennen, steht nirgendwo. "Das sind türkische Oppositionelle", sagt eine Passantin. "Schlimm, was da in der Türkei passiert." Mehmet Badal, Geschäftsführer des Frohsinn Bildungszentrums, hält eine Rede. Die Verbindung zu Gülen erwähnt er nicht. Man präsentiert sich als Erdoğans Opposition.

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Dabei hatte die Bewegung sich über Jahrzehnte zu einer tragenden Säule des türkischen Systems entwickelt und Hunderttausende Gefolgsleute in Bürokratie, Justiz, Militär und Polizeiwesen untergebracht. Experten im In- und Ausland verurteilten Erdoğans Massenverhaftungen nach dem Putschversuch im Jahr 2016. Zugleich staunten sie über die nun sichtbare Ausdehnung des Netzwerks.

"Wir ahnten, dass dahinter ein Netzwerk stand."

Im Jahr 2019 räumte das Rumi Augsburg Kulturforum mit einem Stand auf dem Augsburger Rathausplatz erstmals seine Existenz ein. Mit seiner Gründung begann 1992 die Geschichte des Gülen-Netzwerks in Schwaben. (Foto: Privat)

Christian Rumpf, Anwalt und Experte für türkisches Recht, stellt fest: "Gülens Anhänger erlangten die Strukturen einer riesigen Gemeinde mit starkem Zusammenhalt und loyalen Seilschaften in allen gesellschaftlichen Bereichen - ein fast geheimer Bund mit größerer Macht als die sagenhaften Illuminati." Der prominente Exil-Journalist Can Dündar, dessen Dokumentation über den Putschversuch an diesem Freitag erstmals im Fernsehen gezeigt wird, schreibt in seiner Ankündigung, Erdoğan und Gülen seien "zwei um die Macht kämpfende politische Islamisten, die nach Jahren der Zusammenarbeit zu Feinden wurden und ihre eigenen Anhänger in den Tod zerrten".

Zwischen 2016 und 2020 haben in Deutschland nach den Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge 32 000 türkische Staatsbürger Asyl beantragt. In Bayern waren es 3500, darunter zahllose Gülen-Anhänger. Intransparenz ist ein Markenzeichen der Bewegung. Auch in Augsburg ist das Netzwerk seit 30 Jahren aktiv, meist unerkannt. Vor 2016 umfasste es etwa 150 Erwachsene. Neben Frohsinn und Rumi gründeten die Gülen-Anhänger vier Kindergärten, einen Frauenverein und drei religiös geführte Wohnheime. Matthias Garte, ehemaliger Integrationsbeauftragter der Stadt, erklärt, auf Frohsinn habe immer ein Schatten gelegen. "Wir ahnten, dass dahinter ein Netzwerk stand. Bis zu meinem Ausscheiden 2015 stritten die Verantwortlichen ab, dass der Islam oder ein Netzwerk bei ihnen eine Rolle spielt", berichtet er.

Auch Mindeltalschule in Jettingen verschleiert Gülen-Zugehörigkeit

Die Jettinger Mindeltalschule ist das Leuchtturmprojekt. Es verbindet das lokale Netzwerk mit Gülen-Organisationen aus ganz Süddeutschland miteinander. 2009 gründete Frohsinn mit Schwester-Vereinen aus München, Ingolstadt, Neu-Ulm und Ravensburg die Mädchenprivatschule mit Gymnasium, Realschule und Internat. Derzeit werden hier nach den aktuellen Zahlen des bayerischen Kultusministeriums 164 Schülerinnen unterrichtet, der Freistaat schießt 975 000 Euro pro Jahr zu. Etwa 90 Prozent der Schülerinnen sind türkischstämmig. Der Einzugsbereich der Schule reicht bis nach Liechtenstein, Österreich und in die Schweiz. Auch von der Mindeltalschule wird ihre Gülen-Zugehörigkeit verschleiert. Von ihrer Internetseite hat die Schule Trägergesellschaft und Gründervereine gelöscht. Weder das Leitbild noch die neuen Infos zum Internat verweisen auf Fethullah Gülen oder seine Schriften. Nur das Bankkonto lautet noch auf den Namen des Trägers: Vision Privatschulen gGmbH.

Die neuen Inhalte zum Internat geben jedoch Hinweise auf die Leitfigur Gülen. Wie in vielen Vereinen der Bewegung wurden die religiösen Gespräche (türkisch: "sohpet") für die deutsche Öffentlichkeit in "Teestunde" umgetauft. Einmal in der Woche erteilen Mentorinnen dabei "Werteerziehung". Diese sei die Grundlage für "gesellschaftliches Zusammenleben und angemessene Umgangsformen", wie es auf der Webseite heißt. Man wolle die Jugendlichen zu "moralisch urteilenden Gesellschaftsmitgliedern" erziehen. Nachfragen, um was es da genau geht, lassen Schule und Internat unbeantwortet.

Im Islamverständnis und -praxis Gülens steht die moralische Rechtleitung neben den Pflichtgebeten und Speisevorschriften im Mittelpunkt. Als Vorbild gilt die Frühzeit des Islam und das Leben des Propheten Muhammad. In der Praxis werden Jugendliche und Kinder geschlechtergetrennt von Abis (große Brüder, Vorsteher) und Ablas (große Schwester) unterrichtet. Während die Gesprächsrunden im Türkischen unter islamischen Begriffen laufen, werden sie auf Deutsch zunehmend mit "Demokratie"- und "Werte"-Erziehung übersetzt.

"Ich weiß nicht, was die Lehrer im Internat denken oder nicht."

Enisa S. ist die einzige mit Namen genannte Abla-Mentorin. Sie organisiert die "AG Olympiade". Enisa S. machte 2014 am Richmond Park College in Bihac Abitur, einer Schule, die ebenfalls zum Gülen-Netzwerk gehört. Jetzt studiert sie in München. Die "AG Olympiade" ist die unterste Stufe der internationalen Türkisch- und Kulturolympiaden - Wettbewerbe, deren finale Events jährlich in wechselnden Metropolen auf allen Kontinenten abgehalten werden und die Vernetzung stärken.

Realschul- und Internatsleitung der Mindeltalschule wurden im vergangenen Jahr an Fikriye Bedir übertragen. Die sozialen Medien zeigen, dass nicht nur sie, sondern auch ein neu eingestellter Mathelehrer dem Gülen-Netzwerk zuzuordnen sind. Mehmet Badal von Frohsinn, dessen drei Töchter auf die Schulen gehen, sagt, er habe keine Information, wer das Internat leitet. Ob Lehrer zum Netzwerk gehören, möchte er auch nicht beantworten: "Ich weiß nicht, was die Lehrer im Internat denken oder nicht."

Die seit 2016 von Gülen-Vertretern versprochene Transparenz gibt es nicht. Zwar sucht die Gülen-Bewegung verstärkt die Öffentlichkeit in ihrem Kampf gegen Erdoğan. Doch solange sie nicht Licht ins Dunkel ihres Netzwerks bringt, ist Misstrauen angebracht. Selbst von innen kommt Kritik: "Es gibt in der Bewegung eine Black Box", sagt einer der Flüchtlinge in Augsburg, ein Ingenieur. "Und da müssen wir reingucken." Mehmet Badal jedoch mauert: "Das kann man so behaupten, bewiesen ist da nichts."

"Kampf auf der Bosporus-Brücke - Die Türkei und der gescheiterte Putschversuch", von Can Dündar, Freitag, 22. Januar 2021, um 20.15 Uhr, auf ZDFInfo. Zuvor, um 19.30 Uhr, zeigt der Sender die Dokumentation "Die freundlichen Islamisten - auf den Spuren der Gülen-Bewegung" von Osman Okkan, in der es auch um das Augsburger Netzwerk geht.

© SZ vom 22.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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