Gesundheit:Bayerns Kinderärzte sind am Limit

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Zwei Minuten, drei Minuten. Die Zeit für die Untersuchung der kleinen Patienten ist knapp. Viele Kinderärzte klagen über Überlastung. (Foto: Mauritius)
  • Kinderärzte in Bayern sind überlastet: Sie müssen immer mehr Aufgaben erfüllen und mehr Patienten in weniger Zeit behandeln.
  • Doch die Zahlen suggerieren Überversorgung. Das liegt daran, dass die Bedarfspläne nicht mehr aktuell sind.
  • Die Arztpraxen sind zudem ungleich verteilt.

Von Lisa Schnell, München/Nürnberg

Ein Schnupfen muss in zwei Minuten behandelt sein, für einen Husten gibt es vielleicht drei. Schnell in den roten Kinderhals geschaut und dann weiter. Nur so, und mit einer sehr knappen Mittagspause, sammelt Kinderarzt Wolfgang Landendörfer die Minuten für die Fälle, die mehr Zeit brauchen. Ein Kind mit psychischen Problemen, Mobbing, ADHS. Er will nicht, dass es so ist. Das Gefühl, nie genügend Zeit für seine kleinen Patienten zu haben, gehört zu seinem Alltag, aber es geht nicht anders, sagt er.

Seit 16 Jahren hat der 58-Jährige jetzt seine Kinderarztpraxis in Nürnberg. Fast jedes Jahr, so kommt es ihm vor, wird es schlimmer. Immer mehr Aufgaben, mehr Patienten, weniger Zeit. Acht Wochen müssen Eltern bei ihm warten, für eine Vorsorgeuntersuchung. Seit fünf Jahren hat er einen Aufnahmestopp in seiner Praxis.

Um halb acht wartete am Dienstag der erste Patient auf ihn, es folgten 140, dann ein Hausbesuch am Abend, nach mehr als zwölf Stunden Feierabend. Und das jeden Tag. Landendörfer tut es gern, er will nichts anderes tun als Kindern zu helfen, aber so wie jetzt gehe es nicht weiter: "In Bayern herrscht flächendeckend Notstand. Die Mehrzahl der Kollegen arbeitet am absoluten Limit", sagt er. Ein Blick auf die offiziellen Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB) allerdings erstaunt. Danach gibt es in ganz Bayern mehr Kinderärzte als nötig, Nürnberg soll eine Überversorgung von 134 Prozent haben.

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"Diese Zahlen suggerieren eine Situation, die vor Ort nicht mehr besteht", sagte Ulrich Leiner von den Grünen im Gesundheitsausschuss des Landtags, der am Dienstag über die kinderärztliche Versorgung im Freistaat diskutierte. Vielmehr brenne es an allen Ecken in Stadt und Land, sagt Karl Vetter von den Freien Wählern.

Die Bedarfsplanung für Kinderärzte wurde in den Neunzigerjahren eingeführt. Seitdem aber habe sich einiges geändert, wie Martin Lang den Abgeordneten eindrücklich schilderte. Die Liste, was Kinderärzte heutzutage leisten müssten, sei lang, sagte der Vorsitzende des bayerischen Berufsverbands für Kinder- und Jugendärzte: etwa doppelt so viele Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen wie noch in den Neunzigerjahren. Wobei man für eine Vorsorge mindestens 25 Minuten brauche. Und dann all die neuen Screenings, Ohren, Augen, und Aufklärungen über Mukoviszidose, Zahngesundheit, Ernährung, Schlaf, Unfallgefahren. Dazu seien Kinderärzte heute verpflichtet.

Und dann die Krankheiten, die es früher sicher gab, deretwegen aber niemand zum Arzt ging, weil sie nicht bekannt waren: Verhaltensstörungen wie ADHS, Essstörungen, psychosomatische Krankheiten. Nach Fieber und Husten sind Verhaltensstörungen der am meisten genannte Grund, warum Eltern mit ihrem Kind zum Arzt gehen. Unter 20 Minuten sollte eine Behandlung nicht dauern. Überall kämen Kinderärzte kaum mehr hinterher, überall gebe es verzweifelte E-Mails von Eltern, ob auf dem Land oder in der Stadt, der Notstand bestehe im ganzen Freistaat, sagte Lang.

Woran es vor allem in Großstädten wie München fehle, berichtete Stephanie Jacobs, die Gesundheitsreferentin der Landeshauptstadt. Sie sprach von "einer absoluten Ungleichverteilung der Arztpraxen". In wohlhabenden, zentrumsnahen Gebieten etwa wie in Altstadt-Lehel komme auf 484 Kinder ein Arzt. Weiter draußen, wo eher sozial Schwächere wohnen wie in Milbertshofen gebe es nur einen Kinderarzt - für knapp 11 200 Kinder. Immer noch besser als in der Messestadt Riem. Dort gebe es gar keinen Kinderarzt. Die Folge: "Menschen gehen nicht zum Arzt, wenn sie keinen im Viertel haben", sagte Jacobs.

Großstädte wie München oder Nürnberg bekämen den Geburtenanstieg der vergangenen Jahre besonders zu spüren, sagt Kinderarzt Landendörfer aus Nürnberg. Während die Geburtenrate in ganz Bayern von 2010 bis 2015 um 12, 5 Prozent gestiegen sei, verzeichneten Großstädte einen Zuwachs um die 25 Prozent. Auch hätten Kinderärzte in Städten, wo die Anzahl der Alleinerziehenden höher ist, vermehrt mit sozialen Problemen zu kämpfen. Und trotzdem, auch in München herrscht offiziell eine Überversorgung von 131 Prozent.

Solange dies so bleibe, könnten nicht mehr Arztstellen ausgeschrieben werden, sagte Jochen Maurer von der KVB. Ob die alte Bedarfsplanung heute noch zeitgemäß ist, darüber könne man trefflich diskutieren, sagte er und verwies darauf, dass die Richtlinie überprüft werde. Dabei mehr Druck zu machen sei die Aufgabe für einen Unionsminister in Berlin, sagte Ruth Müller (SPD). Der Freistaat sei nicht zuständig, sagte ein Vertreter des Gesundheitsministeriums. Seine Ministerin Melanie Huml verwies darauf, dass Bayern im kinderärztlichen Bereich grundsätzlich gut versorgt sei. Kinderarzt Landendörfer würde da wohl lachen. Er musste aber schon zum nächsten Patient.

© SZ vom 29.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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