Kratzers Wortschatz:Wie Nagelsmann zum Giftnickl mutierte

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Der Trainer des FC Bayern ärgerte sich zuletzt fast so sehr wie einst das HB-Männchen, das im TV-Werbespot vor lauter Wut in die Luft ging. Der bairische Wortschatz kennt für jähzornige Sportskameraden den Begriff Giftnickl, wogegen ein Gläzn eher langweilig ist.

Von Hans Kratzer

Giftnickl

Bayern-Trainer Julian Nagelsmann. (Foto: Federico Gambarini/dpa)

Das Nervenkostüm des Sportskameraden Julian Nagelsmann wurde am Wochenende über Gebühr strapaziert. Der Trainer des FC Bayern regte sich während des Spiels gegen die "Fohlen" aus Mönchengladbach maßlos über den Schiedsrichter auf. Sogar zu verbalen Entgleisungen ließ er sich hinreißen, dann lief er rot an - fast wie einst das HB-Männchen, das im TV-Werbespot vor lauter Wut stets in die Luft ging. Der bairische Wortschatz kennt für gereizte Individuen, die aufbrausen und sich jähzornig äußern, Begriffe wie Zornbinkerl und Gifthaferl. Ein Haferl ist ein kleiner Topf, der in diesem Fall mit Wut und Ärger gefüllt ist. Statt Gifthaferl sagt man auch Giftnickl und Giftnudel.

Trainerkollege Manuel Baum äußerte sich nach Nagelsmanns Wutausbruch im Bayerischen Fernsehen zuversichtlich, sein junger Kollege lerne schon noch, seine Emotionen im Griff zu behalten. Man weiß ja aus Erfahrung, dass sich ein Giftnickl schnell wieder beruhigt - im Gegensatz zu jenen Grobianen, die man Glachl, Lackl und Gloiffe nennt. Diese pflegen ihre derbe Ungeschliffenheit meistens dauerhaft.

Gläzn

Das Fernsehprogramm in Deutschland besteht im Wesentlichen aus Krimis und Quizsendungen. Da kann man schon mal die Geduld verlieren, wie am Samstag, als im ARD-Abendprogramm fast vier Stunden lang die Quizshow "Wer weiß denn sowas?" ausgestrahlt wurde. Dort wirkten auch die omnipräsenten TV-Helden Günther Jauch und Markus Lanz mit. "Wahnsinn", merkte eine Zuschauerin aus der Verwandtschaft an, "wenn irgendwo Quiz ist, sind allerweil die selben Gläzn dabei!"

Das Wort Gläzn hängt mit Kletzen zusammen. Das sind gedörrte Birnen oder Zwetschgen, Dörrobst also, aus dem das Kletzenbrot gefertigt wird. Ein menschlicher Gläzn ist weniger bekömmlich. Das ist vielmehr ein Kerl, der Langeweile verbreitet oder aus Tratz ärgerliche Dinge tut. Jauch , Lanz und all die anderen Ratefüchse aus dem Fernsehen sind jedoch freundliche Gläzn, die höchstens durch ihre Dauerpräsenz ein kurzes Gähnen provozieren.

Schnallentreiber

Der Dramatiker und Lyriker Bertolt Brecht. (Foto: dpa/dpa)

Vor 125 Jahren kam der Dramatiker Bertolt Brecht auf die Welt. So bedeutend sein Werk auch sein mag, früher hat es ganze Schülergenerationen genervt, mit Brechts Lehrstücken getriezt zu werden. Außerdem hatte es sich herumgesprochen, dass Brecht ein großmäuliger Frauenheld war, der nicht nur viele Liebschaften pflegte, sondern seine Geliebten und ihre Fähigkeiten auch für seine Zwecke ausbeutete.

Offen bleibt die Frage, warum sich diese Frauen ausnützen ließen. Die meisten waren zwar klug, aber dem dichtenden Macho geradezu hörig. Einzig Marieluise Fleißer rechnete später in einer Erzählung mit ihm ab. Männer wie Brecht werden am Stammtisch Weiberer genannt, und manchmal fällt auch der Begriff Schnallentreiber (Schnointreiber). Das ist eigentlich ein Synonym für einen Zuhälter, der Schnallen (Schnoina, Prostituierte) für sich arbeiten lässt.

In einer weiteren Bedeutung gelten aber auch jene Männer, die sich mit vielen Frauen einlassen und dabei ihre moralische Integrität verlieren, als Schnallentreiber. Viele berühmte Schriftsteller gerieten neben Brecht in den Ruf eines Weiberers und Schnallentreibers: Sartre, Remarque, Benn, Kästner, um nur einige zu nennen. Angesichts der rigiden Maßstäbe heutiger Moralität kommen sie aus dieser Nummer nicht mehr heraus.

zeidig

Holte sich letztes Jahr ihren zweiten Weltcup-Sieg: Lena Dürr. (Foto: Mathias Mandl/Gepa/Imago)

Am kommenden Samstag wird im französischen Méribel die Weltmeisterin im Slalomlauf der Frauen ermittelt. Zu den Favoritinnen zählt die Münchnerin Lena Dürr, die viele Jahre brauchte, um in die Weltspitze vorzurücken. Eine frühere Rennläuferin sagte neulich: "Jetzt ist sie zeidig, die Lena."

Auch ein Apfel braucht eine gewisse Zeit, bis er zeidig ist, bis er also seine volle Reife entfaltet. Eine Elterngruppe diskutierte kürzlich darüber, wann Kinder in die Schule geschickt werden sollten, schon mit fünf, oder doch erst mit sechs Jahren. Es gibt viele Kinder, die mit fünf Jahren noch nicht zeidig sind. Das macht aber nichts. Sie brauchen halt ein bisserl länger, bis sie reif für die Schule sind.

Stöcklreißer

(Foto: Franz-Xaver Fuchs/STA)

In einer geselligen Runde in einem Münchner Wirtshaus wurden neulich Erinnerungen an alte Zeiten wach. Als die Weiher im Winter noch öfter zugefroren waren und man darauf gut Schlittschuhlaufen konnte. Schlittschuhe heutiger Qualität gab es früher allerdings nicht, für Hobbyläufer waren sie nicht erschwinglich. Stattdessen flitzte man mit sogenannten Stöcklreißern übers Eis.

Auf Facebook erinnerte sich die aus Abensberg stammende Elfriede Beck einmal an die Jahre 1947/48: "Solche Stöcklreißer hatten wir auch. Am Pribisneckerweiher war ein Bankerl, da konnte man hinsitzen und sie anschrauben. Man musste sie mit einem Schlüssel an den Schuhen festschrauben." Zwei Backen der Stöcklreißer wurden am Absatz des Schuhs befestigt, zwei weitere vorne. So mancher Stiefelabsatz ist dann beim Fahren abgerissen. Der Schuster musste den Absatz wieder festkleben, er hatte viel zu tun.

Wegen dieser Schwachstelle haben die Schlittschuhe, die an einen Schuh geschraubt wurden, Stöcklreißer (Steckereißer) geheißen. Damit zu fahren, war oft ein Gfrett, aber man kannte es halt nicht anders und war dennoch zufrieden.

Oachkatzl

(Foto: imageBROKER/Dieter Mahlke /imago images)

In Hannover waren kürzlich vier Gleise tagelang gesperrt, weil ein Eichhörnchen einen Kurzschluss in einer Oberleitung verursacht hatte. Ansonsten ist das Eichhörnchen als flinker Kletterer in Nuss- und sonstigen Laubbäumen sowie wegen seines koboldartigen Aussehens beliebt. Man weiß wenig über diese Tiere, weshalb der Bund Naturschutz ein Forschungsprojekt gestartet hat. In Bodenkirchen (Kreis Landshut) ist sogar ein Waldkindergarten nach dem Eichhörnchen benannt, allerdings in der mundartlichen Form: Oachkatzl.

Den reichlich abgenützten Begriff Oachkatzlschwoaf ziehen manche immer noch als Testwort heran, um zu überprüfen, ob ein Schriftsprachler die bairische Lautung nachsprechen kann.

Ramasuri

(Foto: Raphaela Edelbauer)

"Die Inkommensurablen" heißt der neue Roman der Wiener Autorin Raphaela Edelbauer. Die Geschichte spielt sich kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs anno 1914 ab. Einige Rezensenten schwärmen, das sei ein großer Roman. Andere wiederum halten ihn für misslungen. Judith von Sternburg, die das Buch in der Frankfurter Rundschau besprochen hat, äußert sich lobend, vor allem über die Sprache und die Wörter des Romans. "Merken wir uns unbedingt den Begriff Ramasuri", schreibt sie begeistert. Da Frau von Sternburg auch für bayerische Medien tätig ist, erstaunt es doch, dass ihr das Wort Ramasuri nicht geläufig ist.

Es ist ein auch in Bayern gängiger Begriff, den man sogar in diversen München-Krimis hört. In Österreich sagt man eher Remasuri, beide Versionen lassen die Sprache leuchten. Ramasuri, das wie Diridari, Charivari, Goggolori und Ramadama klingt, kann vieles bedeuten: Durcheinander, Chaos, Tumult und Trubel. Vermutlich kommt es aus dem Italienischen (rammassare: sammeln, anhäufen). Im Kult-Theaterstück "Brandner Kaspar" schimpft sogar der Erzengel Michael an der Pforte zum Paradies: "Was ist denn des für ein Ramasuri?"

Ream

(Foto: Florian Peljak/Florian Peljak)

Die Technikgeschichte ist voll von grandiosen Erfindungen. Als unverwüstlich erwies sich dabei das mechanische Getriebe, das sich als der am längsten existierende Antrieb bewährt hat. Handelt es sich um einen Riemenantrieb, so wird die Kraft über einen Keilriemen übertragen, der über sogenannte Riemenscheiben läuft. Diese großartige Technik hat sich auch in der Sprache niedergeschlagen, was neulich bei der Holzarbeit in einem Wald im Isental deutlich wurde. Benedikt H., ein fleißiger junger Bursche, sagte nach stundenlanger Schwerarbeit: "Jetz deama an Ream owa!" Übersetzt heißt das: Jetzt tun wir den Riemen runter, kurzum: Jetzt machen wir Feierabend.

Der Spruch ist im Handwerk häufig zu hören. Wenn der Riemen von der Maschine genommen wird, dann läuft nichts mehr. Einen ähnlichen Spruch kann man in Betrieben bereits frühmorgens hören. Wenn einer müde zur Arbeit erscheint, dann heißt es laut Benedikt H. sofort: "Bei dem geht da Ream no ned recht um." Da läuft der Riemen also noch nicht richtig um. Für die Riemenscheibe gibt es eine übertragene Bedeutung, die nicht mehr in die sprachsensible heutige Zeit passt. Über Menschen mit einem großen Hintern wurde gelästert: Der/die hat an Orsch wia a Reamscheim!

Ohrwaschlrennen

(Foto: Florian Peljak/Florian Peljak)

Neulich im Zug von Regensburg nach Landshut. Im Abteil hockten nur wenige Fahrgäste, und die Stimmung war entspannt. Einem jungen Burschen taugte es dermaßen, dass er seine Füße auf die gegenüberliegende Sitzbank legte. Vor lauter Behaglichkeit bemerkte er jedoch nicht, dass sich der Schaffner näherte. Und der sah sich prompt zu einer Erziehungsmaßnahme genötigt: "Deine Haxn lasst herunt, sunst gibt's a Ohrwaschlrennats."

Der strenge Schaffner verwendete einen Begriff, der bereits anno 1861 im Freisinger Wochenblatt zu lesen war. Das Ohrwaschl ist als volkstümlicher Ausdruck für das Ohr allgemein bekannt. Das Wort Waschl wiederum wird im Bairischen variabel verwendet, etwa, um das Staunen über einen großen Salatkopf zum Ausdruck zu bringen: "Um Gotteswillen, is des a Waschl!" Ein Waschl ist auch beim Weißeln nützlich. In diesem Fall ist dies eine Bürste, mit der die Farbe an die Wand gewaschelt wird. Auch ein Einfaltspinsel wird manchmal als Waschl bezeichnet.

Als Markus Söder noch Finanzminister war, hat ihn die Kabarettistin Luise Kinseher auf dem Nockherberg als den "Prinz Charles von der CSU" vorgestellt, "bloß mit schönere Ohrwaschl". Von der Form her wären sie tatsächlich gut geeignet für ein Ohrwaschlrennen (-rennats). Als die Schulkinder noch gezüchtigt wurden, verpassten ihnen die Lehrer und die Pfarrer als Strafmaßnahme oft einen Satz heiße Ohren. Zu diesem Zweck legten sie die flachen Hände links und rechts auf die Ohren der Kinder und bewegten sie ganz schnell hin- und her, was für die Opfer sehr schmerzhafte Folgen hatte. Auch Gerhard Polt hat dies als Bub erlebt und weiß deshalb aus eigener Erfahrung: "Danach sind die Ohrmuscheln voll illuminiert."

Schmalbrustanderl

(Foto: Robert Haas)

Kollege O. suchte kürzlich mit ein paar Freunden Entspannung beim Bowling. Einer der Kameraden wollte dann aber doch nicht mitgehen, weshalb er sich den Vorwurf anhören musste: "Konst koa Kugel daheben, Schmoibrustanderl?" Unter einem Schmalbrustanderl muss man sich einen schmalbrüstigen Jüngling vorstellen, dem man kräftemäßig nicht viel zutraut. Oft müssen sich solche Burschen Spottreden anhören, aber zu Unrecht. "Der Lahm ist eher so a Schmalbrustanderl", lästerte die Kabarettistin Monika Gruber über den einstigen Kapitän des FC Bayern. Trotzdem wurde der schmalbrüstige Fußballer Weltmeister. Ein Schmalbrustanderl ist ein Krischperl. Vor der Schwurgerichtskammer am Landgericht München I musste sich einmal ein gut genährter Schläger verantworten. Er verteidigte sich mit dem Argument, er habe sich vor seinem Opfer gefürchtet. Was ihm der Richter nicht abkaufte, denn das Opfer sei doch ein Krischperl gewesen. Anderl ist eine Variation des Vornamens Andreas. Dass nicht jeder Anderl ein Schmalbrustanderl ist, zeigte der übergewichtige Bobfahrer Anderl Ostler (1921-1988), der Olympiasieger wurde.

Neujahr abgewinnen

Zum Jahreswechsel sind nach altem Brauch mehrere Briefe mit guten Neujahrswünschen ins Haus geflattert. Darin war zum Beispiel zu lesen: "Lieber Herr . . . , i woit eana nur a guads neis Jahr abgwinga." Das neue Jahr abgewinnen - es ist so schön, dass dieser Brauch heute noch gepflegt wird. Dahinter steckt natürlich ein tieferer Sinn, wie man dem Bayerischen Wörterbuch von Johann Andreas Schmeller aus dem 19. Jahrhundert entnehmen kann. In diesem unvergleichlichen Werk ist unter dem Stichwort Neujahr zu lesen: "Einem das Neujahr abgewinnen, ihm mit dem Glückwunsch zum neuen Jahr zuvorkommen; ihm gleich von vorne herein unsre Überlegenheit fühlen lassen." Schmeller kannte den Brauch also als eine Art Wettkampf. Gewonnen hat, wer als erster gratuliert.

Von der aus Dorfen stammenden Emma H. erfährt man dazu, bei ihrer Großtante sei das Abgewinnen anders verlaufen. Sie sei als Mädchen an Silvester zu ihr gelaufen, "dann hamma a bisserl geratscht, und bevor es dunkel geworden ist, hab ich gesagt, jetz muass i wieder gehn, oiso, dann wünsch i eich a guads neis Jahr." Daraufhin habe die Tante erwidert: "Jetz hast ma 's Jahr abgwunna. Wart a weng!" Dann habe sie den Geldbeutel aufgemacht und sie mit einem 20-Mark-Schein belohnt.

Rankerl Geselchtes

(Foto: Renate Schmidt/Renate Schmidt)

Ein Geselchtes ist ein geräuchertes Schweinernes. Wer noch nicht ins Lager der Vegetarier und Veganer übergelaufen ist, wird davon schwärmen, vor allem wenn er ein Rankerl Geselchtes als Weihnachtsgeschenk bekommen hat. Die Herstellung des Geselchten erfordert Können und Geduld. Es braucht dazu das Fleisch einer möglichst selbst gefütterten Sau, eine Sur nach geheimen Rezepten und ein gutes Gespür beim Selchen, also beim Räuchern. Das Fleisch wird zunächst mit Salz, Knoblauch und allerlei Gewürzen eingesurt und dann in einer Selche (Räucherkammer) geräuchert. Ein Synonym für das Rankerl (Ranken) ist das Wort Zenterling. Die Franken sagen dazu Gracherts, die Oberpfälzer Schraidl. Früher hatte ein Zenterling durchaus den Umfang eines Schweineviertels, heute werden kleinere Rankerl geselcht. Der Autor Georg Queri hat dieser Delikatesse im Jahr 1909 ein unvergleichliches Denkmal gesetzt: "Und dann ein Pfund Gselchtes von einer jungen Sau - da hört sich die Weltgschicht auf, wenn man so ein gutes Bröckl hat, und ich könnts sauber an einem Freitag auch fressen und tät mich nicht Sünden fürchten."

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