Kindheit in Bayern:So schön wird's nie wieder

Lesezeit: 3 min

Eine Kindheit auf dem Lande ohne die Nähe zu Tieren war früher fast undenkbar. Die Aufnahme entstand um das Jahr 1950. (Foto: Gerhard Leber/Imago)

Der Bildungsforscher Valentin Reitmajer denkt mit Wehmut an seine Dorfkindheit in den Fünfzigerjahren zurück. War sie wirklich so aufregend und lustig, wie er sie in Erinnerung hat? An Originalen, Kuriositäten und Skurrilitäten herrschte jedenfalls kein Mangel.

Von Hans Kratzer, Julbach

Aus heutiger Sicht ist es schier unvorstellbar, was für eine Respektsperson ein Pfarrer früher war. Brave Landkinder betrachteten ihn als eine Art überirdisches Wesen. Eines Tages in den späten Fünfzigerjahren musste der kleine Valentin Reitmajer mit dem Pfarrer von Julbach in das 40 Kilometer entfernte Burghausen radeln, um dort das Bischöfliche Knabenseminar zu besichtigen. Auf der Heimfahrt kehrten sie in einem Biergarten ein, wo sich der Pfarrer plötzlich entfernte. Der Bub folgte ihm und sah, dass der gute Mann das Klo ansteuerte. "Für mich brach ein Stück Fassade meiner Kinderfantasie zusammen", erinnert sich Reitmajer, "denn ich hatte nie daran gedacht, dass auch ein Pfarrer mal muss, ich kannte ihn ja nur von heiligen Handlungen."

Eine Kindheit in den Fünfzigerjahren: Es gab kaum Spiel- und Sportplätze, auch Kindergärten waren rar. "Man wuchs in der Regel ohne Bad und Zentralheizung und natürlich ohne Handy und Computer auf", sagt der mittlerweile 74-jährige Valentin Reitmajer, der bis zur Pensionierung am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung sowie an der Universität in München tätig war. Und doch beharrt er darauf, dass seine Kindheit in dem niederbayerischen Dorf Julbach "schön, aufregend und oft auch lustig war". Er denke gerne und manchmal auch mit Wehmut an jenes Dorf zurück, in dem er Geborgenheit gespürt habe.

Newsletter abonnieren
:Mei Bayern-Newsletter

Alles Wichtige zur Landespolitik und Geschichten aus dem Freistaat - direkt in Ihrem Postfach. Kostenlos anmelden.

Damit dieser im Strudel von High Tech, Konsum und Medienflut verschwundene Mikrokosmos nicht in Vergessenheit gerät, hat Reitmajer schon vor 20 Jahren ein Büchlein darüber geschrieben. Tatsächlich hat sich der Wandel der Lebensverhältnisse noch nie so rasch und so radikal vollzogen wie in jener Generation, der Reitmajer angehört. Das hat ihn nun bewogen, sein Werk neu aufzulegen.

Der dort geschilderte Alltag, aber auch die Menschen und die Machtstrukturen müssen auf junge Menschen von heute befremdlich wirken. Eine Welt, bei der nicht klar ist, ob sie wirklich so idyllisch war, wie sie heute erscheinen mag. Erinnerungen erweisen sich oft als trügerisch, der Mensch neigt dazu, Negatives zu verdrängen und das Gute zu überhöhen. Auch der SZ-Rezensentin von vor 20 Jahren fiel es schwer, zu glauben, eine Kindheit im Niederbayern der Fünfzigerjahre sei nur schön und lustig gewesen. Wer wie Reitmajer gute Erinnerungen hat, neigt natürlich eher zur Heile-Welt-Sicht als ein Autor mit geschundener Seele.

Gleichwohl ist es in einer Welt, in der sich gerade die Hiobsbotschaften überschlagen, kein Schaden, auch die heiteren Seiten des Lebens hervorzukehren. Diesbezüglich bereitet das Büchlein durchaus Freude, denn die Freiheit früherer Kindheiten brachte Geschichten hervor, wie sie heute kaum noch möglich sind.

Kurios genug sind allein schon die von Reitmajer geschilderten Personen, sei es das "Lehrerfreilein", das entweder im Schuldienst oder im Ehestand sein durfte. Oder die Leichenbitterin und die vom Rheuma geplagte Bäcker-Mare, die ihm den Rat gab, Pfarrer zu werden, denn: "De Weiber san eh ollawei krank!"

"A Schand seids es!", sagte der Pfarrer

Wunderbar sind auch die alten Begriffe, etwa das Verb kristeln, das im Winter beim Skifahren auf dem Dorfbuckel zu hören war: "Wir sausten ohne Bögen zu fahren den Steilhang hinunter und beendeten unten die Höllenfahrt mit einem sogenannten Kristl" (benannt nach dem Christiana-Schwung).

Obligatorisch war das samstägliche Bad in einer Zinkwanne, wobei der Vater das Schlusslicht bildete, da es als unmännlich galt, sich zu sehr der Körperpflege zu befleißigen. Beim Leichentrunk wiederum gerieten die Ministranten in Gefahr, Unsinn zu treiben und zum Beispiel mit dem Löffel in die Leberspatzlsuppe zu klatschen, um den Nebenmann abzuspritzen - bis sich der Tisch in eine Art Schlachtschiff verwandelte. Mit den Worten "A Schand seids es!" habe sie der Pfarrer aus der Gaststube bugsiert, beschreibt Reitmajer das wilde Treiben, das gerade durch die Enge des Dorflebens gefördert wurde. Dem Dorf entfloh der Autor, als er in München sein Studium aufnahm. "Das Hinausschauen über den Tellerrand hat mir und meinem Blick auf meine Wurzeln gut getan."

Valentin Reitmajer: Kindheit in Bayern in den Fünfzigerjahren, Neuauflage 2022, 93 Seiten, Reimo-Verlag.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusGeschichte Bayerns
:Die Köchin des Nobelpreisträgers

Viele Jahre lang versorgte Margarete Heumader den Haushalt des Schriftstellers Gerhart Hauptmann. Nach dessen Tod führte sie in Niederbayern ein bescheidenes Leben. Ihre Rolle als Zeitzeugin wurde in Deutschland lange verkannt, in Polen jedoch nicht.

Von Hans Kratzer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: