Artist in Residence:Der Weg zur Freiheit

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Ein-Mann-Orchester am Schlagzeug, der aber mit Vorliebe auf allen Ebenen mit anderen kommuniziert: Christian Lillinger. (Foto: Erich Werkmann)

Christian Lillinger ist Deutschlands prominentester experimenteller Schlagzeuger. Einordnungen in Genres hat er hinter sich gelassen. Jetzt kuratiert er im Schwere Reiter ein Festival seines Plaist-Labels - ein "Festival für aktuelle und zukünftige Musik".

Von Oliver Hochkeppel

Auch wer Christian Lillinger noch nie am Schlagzeug gesehen und gehört hat, kann sich das nach einem Gespräch mit ihm vorstellen. Lillinger redet schnell, aber gestochen scharf, körperbetont, aber immer reflektiert, mit klaren Positionen, aber immer diskursiv. Weil die Musik bei ihm direkter Ausdruck seiner Persönlichkeit ist, sieht das dann auch am Drumset so aus: Immer in Bewegung (früher waren die wild herumfliegenden langen Haare fast ein Markenzeichen), immer energiegeladen, immer den Dialog mit den Mitmusikern suchend, immer die Grenzen des Schlagzeugspiels auslotend, verschiebend, erweiternd.

Damit ist der 39-Jährige zum in Deutschland wohl führenden und auch international beachteten Motor der Neuen Improvisationsmusik geworden. Es steht hier bewusst nicht Jazz oder Moderne Musik, denn Lillinger nimmt für sich in Anspruch, Genres hinter sich gelassen zu haben. "Die Tradition habe ich durch", sagt er, "lass uns doch Anderes, Neues checken. Da geht es um Vielfalt und Diversität, wie man heute so schön sagt. Das wird dem Jazz-Begriff wirklich gerecht, mit dem ich mich ansonsten inzwischen schwer tue."

Wobei der in einem 400-Einwohner-Dorf in der Märkischen Heide Aufgewachsene natürlich zunächst den üblichen Weg eines hochtalentierten Jazzers gegangen ist. Früh in der Familie musikalisch sozialisiert (sein sechs Jahre jüngerer Bruder Robert ist inzwischen ein renommierter klassischer Komponist, Pianist und Dirigent) und vom Schlagzeug fasziniert, ging er mit 16 zum Studium bei Günter "Baby" Sommer an die Carl Maria von Weber- Musikhochschule nach Dresden. Ein Jahr später saß er bereits im Bundesjazzorchester.

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Früh aber bog Lillinger dann auf seinen eigenen, freieren Weg ab. Das begann mit dem immer noch lose bestehenden, gleichberechtigten Trio mit dem Saxophonisten Philipp Gropper und dem Gitarristen Ronny Graupe, bis 2015 unter dem Namen Hyperactive Kid, und im Projektensemble Euphorium_freakestra, aus dem sich vor allem die Zusammenarbeit mit Günter Sommers Zentralquartett-Weggefährten Ernst-Ludwig Petrowsky ableitete. Von 2008 an nahm dies konsequent Fahrt auf, seitdem kommt praktisch im Jahrestakt ein nachhaltig bestehendes Projekt dazu, von der ersten eigenen Band Grund über das Klaviertrio Grünen, die Trios Dell Lillinger Westergaard und Starlight mit Wanja Slavin und Petter Eldh, mit Peter Evans zum Quartett Amok Amok erweitert. Weiter ging es mit Punkt.vrt.Plastik mit der Pianistin Kaja Draksler und dem qÖÖlp-Quartett mit Ronny Graupe und den Brüdern Valentin und Théo Ceccaldi. Sogar eine Art Supergroup kam zuletzt hinzu, bei XXXX spielt Lillinger mit Tim Lefebvre, Émile Parisien und Michael Wollny in den großen Sälen.

Bei all dem fand und findet Lillinger noch Zeit, als Sideman mit nahezu allen wichtigen Innovatoren der deutschen wie europäischen Szene zu spielen. Auf gut 110 Alben ist sein Schlagzeugspiel inzwischen festgehalten. Ende 2017 gründete er schließlich sogar sein eigenes Label namens Plaist. Warum? "Ich bin nicht so leicht zu verstehen. Am besten verstehe ich mich selbst. Also muss ich so klar wie möglich aus meiner Warte kommunizieren. Das heißt, ich gebe nicht mein Design ab, ich gebe nicht nicht mein kuratiertes Dasein ab. Wenn ich es alleine hinkriege, ist es zumindest authentisch. Bei den meisten Labels kriegst du vielleicht zwei Cover-Vorschläge, das ist es. Obwohl das doch eine entscheidende Rahmung, eine Überschrift ist, das gehört doch alles künstlerisch zusammen."

Um Gestaltungsfreiheit und Vielfalt geht es ihm. "Experimente zeigen neue Formen des Lebens auf. Nur Beispiele und Angebote, aber besser als Monotonie." Nicht immer muss das übrigens ganz "free" sein, bei Kuu! etwa stellt er seine ungezähmte Kunst - genau wie die beiden Gitarristen Kalle Kalima und Frank Möbus - seit einigen Jahren in den Dienst der Kammerspiel-Schauspielerin und einzigartigen Avantgarde-Sängerin Jelena Kuljić.

Für all das ist Lillinger mittlerweile hochdekoriert. Alleine vom erst seit drei Jahren vergebenen Deutschen Jazzpreis stehen bereits drei bei ihm im Regal. Wobei Lillinger das nur insoweit interessieren dürfte, als der stets in Strukturen und gesellschaftlichen Zusammenhängen Denkende (der von 2012 bis 2013 auch im Vorstand der Deutschen Jazz Union saß) die Wertschätzung gegenüber Künstlern und Musikern im Allgemeinen und Jazzern im Besonderen für sträflich unterentwickelt hält.

Derzeit weilt er in der Villa Waldberta in Feldafing

Die Landeshauptstadt München hält jetzt immerhin gleich zwei Förderungen für den so kreativen, produktiven, interdisziplinären und nicht zuletzt stringent immer bei sich bleibenden Christian Lillinger bereit. Einmal ein Aufenthaltsstipendium für die Villa Waldberta. Seit Anfang Juli weilt Lillinger in dem prächtigen Anwesen in Feldafing, empfängt Kollegen, entwickelt Ideen und werkelt an Neuem.

Und wo er schon einmal da ist, war es naheliegend, Lillinger auch die "schwere reiter Residenz 2023" anzutragen. Die nutzt er nun zu einem dreitägigen Festival unter dem Titel seines Labels. Vom 27. bis 29. September sind für jeweils vier Kurzauftritte von 19 bis 22 Uhr nationale und internationale Hochkaräter der Improvisationsszene zu Gast. Neben schon auf Plaist präsenten Musikern - am 27. Dell-Lillinger-Westergaard, und an den folgenden Tagen seine Duos Umbra und Penumbra mit dem Pianisten Elias Stemeseder - hat Lillinger viele eingeladen, die dem Label bislang noch nicht verbunden sind. "Die das aber sicher oder vielleicht bald sein werden", wie er ergänzt. "Ich kenne alle seit langem."

Als da wären der französische Elektroniker György Kurtag jr., die slowenische Sängerin und Performerin Irena Z. Tomažin, die schwedische Stimmakrobatin Sofia Jernberg, die Schweizer Pianistin Simone Keller, der österreichische Pianist und Claviton-Spieler Georg Vogel, die alle solo spielen werden. Dazu stoßen der bereits auf Plaist verlegte schwedische Bassist und Lillinger-Intimus Petter Eldh und der Berliner Turntable-Meister Vincent von Schlippenbach gemeinsam mit dem Tänzer Kofie Davibe. Schließlich ist Christoph Dell einmal nicht als Musiker zu sehen, der Vibraphonist ist ja auch Städteplaner und stellt sein neues Buch "Dialogue Concerts - Conceptual Research on Architecture and Music" vor.

Alles zusammen dürfte Lillingers Wunsch erfüllen, dass das Plaist Festival - im Untertitel so schön "Festival für aktuelle und zukünftige Musik" genannt - Räume für künstlerischen Austausch und prozessorientiertes Arbeiten öffnet. Ansätze unterschiedlicher Kulturen, Stile und Verfahrensweisen verhandelt und weitergedacht, rund um die Themen Verkörperlichung, Interpretation und Artikulation. Gemeinsames Vordenken in anschließendem Nachdenken münden lässt. Mitunter wird es wohl wild und kontrovers werden. Aber in jedem Fall spannend.

Plaist Festival, Mi., 27., bis Fr., 29. Sept., jeweils 19 bis 22 Uhr, Schwere Reiter, Dachauer Str. 114, www.schwerereiter.de

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