Unternehmer in Bayern:Im Sitzen erfolgreich

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Rainer Maria und Peter Wagner: die dritte Generation im Chefsessel aus eigener Fertigung. (Foto: Topstar GmbH)

Der Stuhlhersteller Topstar macht dieser Tage gute Geschäfte - wegen der Pandemie, aber auch dank weitsichtiger Entscheidungen. Mit Wirtshausstühlen ging es los, heute werden hochwertige Designer-Modelle produziert. Zu Besuch auf dem schwäbischen Land.

Von Maximilian Gerl, Langenneufnach

Auf den Begriff "Corona-Profiteur" reagieren manche Unternehmer pikiert. Insbesondere dann, wenn er stimmt. Doch Rainer Maria Wagner nimmt das verpönte Wort zur Begrüßung ungefragt in den Mund. Später wird er erzählen, wie er, der Professor und Unternehmer, mit seinem Bruder sogar am Samstag in der Fabrik aushalf, um jene Nachfrage zu bewältigen, die ihnen die Pandemie beschert hatte. "Die Mitarbeiter wissen ja teilweise gar nicht, dass wir unser halbes Leben an der Linie gestanden sind", sagt er. Dass sie, wie sein Bruder Peter Wagner beisteuert, schon als Kinder für 50 Pfennig pro Stunde in der Fabrik aushalfen und all die Polster und Lehnen und Federn selbst verbauten - zu Stühlen.

Auch eine Generation später ist die Auftragslage weiter gut beim Stuhlhersteller Topstar im schwäbischen Langenneufnach (Landkreis Augsburg). Sonderschichten wie auf dem Corona-Höhepunkt müssen sie dort aktuell aber nicht fahren, was den Firmenchefs die Luft verschafft, wieder vom Schreibtisch aus ihre Vorstellung vom Sitzen voranzutreiben: von Mobiliar, das idealiter mitschwingt, den Rücken schont und Schmerzen lindert - all das also, über das Home-Office-Beschäftige in diesen Zeiten klagen und auch die Geschäfte befeuert hat. Seit der Pandemie ist der Umsatz um mehr als ein Drittel gewachsen, auf 114 Millionen Euro. Im vergangenen Jahr verkauften die Brüder mehr als eine Million Stühle - das sind mehr als 500 mal so viele Sitzgelegenheiten wie Bewohner im Ort.

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Es ist ein ungleich wirkendes Gespann, das die Geschicke der Stuhlfabrik im 1800-Einwohner-Dorf leitet. Ums Geschäftliche kümmert sich Rainer Maria Wagner, Jahrgang 1965, Typ Harald Lesch. Er lehrt außerdem Betriebswirtschaft an der Hochschule Fresenius und hat einen Band über die Industrie 4.0 herausgegeben. Der drei Jahre jüngere Peter Wagner, optisch eher der Startup-Typ, verantwortet laut Auskunft des älteren Bruders "alles, das Spaß macht", darunter das Produktdesign. Sein Arbeitsplatz ist nicht das Verwaltungsgebäude, sondern ein separierter Glasriegel daneben: mit Scheiben wie Schaufenster, jedes knapp 20 Meter lang und "die weltweit größten Gläser, die jemals verbaut wurden", wie ein Architekturmagazin 2020 vermerkte. Drinnen grüßen viel Weiß, durchgestyltes Interieur und ein Konferenzraum mit langer Tafel.

Das Wagner DesignLab: ein futuristischer Glasriegel im schwäbischen Hügelland. (Foto: Topstar GmbH)

Die Topstar GmbH - bestehend aus Topstar und ihrer Premium-Marke Wagner Living - zählt zu den größten seiner Branche in Deutschland. Das Geschäftsmodell war eigentlich schon früher zeitlos, gesessen wird schließlich immer. Das Wie aber wird wichtiger. In vielen Firmen kümmern sich längst Spezialisten darum, Schreibtische und Stühle richtig und rückenschonend einzustellen. Das kommt Topstars Anspruch entgegen, nicht nur bequem zu fläzen, sondern auch gesund.

"Sitzen in Bewegung" heißt das Konzept: Stühle, die den Körper in Bewegung halten und so Beschwerden wegen langen Sitzens reduzieren sollen. Über Details wie dreidimensionalem Sitzen, Wirbelsäulen und der Studienlage können die Wagners lange referieren, aber vielleicht probiert man es am besten einfach aus. Auf den Stühlen im Konferenzraum etwa lässt sich prima hin- und herwackeln, sie drehen und federn mit, auf dass es nie still bleibt. Der Stuhl als Balanceinstrument. Die Bewegung geht bei einem neuen Modell angeblich soweit, dass sich durchs Sitzen anfangs so etwas wie Muskelkater einstellen kann. "Das ist fast wie Joggen", sagt Peter Wagner.

Marketing der zupackenden Art: Firmengründer Moritz Wagner oben, sein Wirtshausstuhl unten. (Foto: Topstar GmbH)

Dabei ging es nach dem Zweiten Weltkrieg wenig bewegt los in Langenneufnach: mit einem robusten Wirtshausstuhl, wie man ihn heute noch in manchen Wirtschaften findet. Ein Foto zeigt Gründer Moritz Wagner, wie er auf den Schultern zweier Mitarbeiter steht, die wiederum auf Beinen und Lehne des Stuhl balancieren. In den 1970er-Jahren wurde aus seiner Fabrik die Firma Topstar, Drehstühle kamen hinzu. Mit dem Einstieg der dritten Generation um die Jahrtausendwende rückte zunehmend das "Sitzen in Bewegung" in den Fokus - und die Frage, wie sich dem Erstarken der Konkurrenz aus Fernost etwas entgegensetzen lässt.

2005 verließen das Werk in Langenneufnach noch etwa doppelt so viele Stühle wie heute. Dann änderte sich die Formel: weniger Quantität, mehr Qualität. Das Ergebnis lässt sich bei einer Tour durch die Fabrik erkunden, die sich hinter Verwaltungsgebäude und Glasriegel den Hügel hinaufzieht. Gefertigt wird auf Bestellung, das können mal 300 identische Stühle sein, mal einer. Vereinfacht werden die Teile am Anfang des Bandes in einen Karton sortiert. Von da an geht es direkt in den Versand zum Selberzusammenbauen - oder per Aufzug zur Montage.

Sitz, Lehne, Feder, Kreuz: aus Einzelteilen wird ein Stuhl. (Foto: Maximilian Gerl)

An vielen Stellen nehmen Automatisierung und Technik den Menschen Mühen ab. Ganz ohne Handarbeit geht es aber nicht. In der Näherei etwa rattern Mitarbeiterinnen an Dutzenden Nähmaschinen, damit aus bunten Stoffbahnen Rückenlehnen werden. In der Polsterei wird getackert, geklebt und gespannt.

In der Näherei bereiten Mitarbeiterinnen spätere Rückenlehnen vor. (Foto: Maximilian Gerl)

Im hauseigenen Prüflabor dagegen drücken Metallarme Lehnen 100 000-mal nach hinten, während nebenan Hocker im 3-D-Drucker entstehen. Und in einer Werkhalle bringen selbstfahrende Roboter Teile von einem Band zum anderen. Am Ende gehen die Stühle dann per Lieferwagen quer durch Deutschland und Europa. Für einen hochwertigen Wagner-Sessel weisen Online-Shops schon mal vierstellige Summen aus, die Stücke werden in Wohnzeitschriften empfohlen und auf Design-Messen ausgestellt.

In der Stuhlfabrik bringen selbstfahrende Roboter Teile von A nach B. (Foto: Topstar GmbH)

Die Schwaben werben nicht als Einzige mit gesundem Sitzgefühl. "Wir haben das Sitzen nicht neu erfunden", sagen sie in Langenneufnach dazu. Aber sie sind der Überzeugung, es besser gemacht zu haben - und haben sich dazu gewissermaßen Verstärkung geholt. Bei einer Produktreihe sind Felix Neureuther und seine Stiftung an Bord, bei einer anderen Designer Stefan Diez und Barlegende Charles Schumann.

Und sie haben auch bei der Produktion einem aktuellen Trend vorgegriffen. Angesichts gestörter Lieferketten und grassierendem Rohstoffmangel überlegen viele Branchen, ihre Fertigung zurückzuholen. Die von Topstar war nie weg. Rund 450 Beschäftigte stehen in Langenneufnach 1800 Einwohnern gegenüber. Nach China zu gehen, um Geld zu sparen, das "wäre nicht gut gewesen", sagt Rainer Maria Wagner. Natürlich finde man dort immer jemanden, der es noch billiger mache, aber "ob die Qualität dann passt, ist eine andere Frage". Auch die benötigten Teile werden nach eigenen Angaben größtenteils in Europa eingekauft, das macht die Lieferketten weniger anfällig.

Sich selbst sieht man bei Topstar als "Innovator" und Vorreiter in Sachen Industrie 4.0. Die Automatisierung der Fabrik gehört also mit zum Geschäftsmodell - "nicht um Arbeitskräfte zu sparen, sondern weil wir keine mehr haben", wie es Rainer Maria Wagner formuliert. Der demographische Wandel lässt grüßen. Tagein, tagaus an einer Produktionslinie stehen, das ist ohnehin nicht für alle was. Und ausgehen dürfte die Arbeit auch nicht so schnell: Immobilienmenschen, Architekten und Raumaustatter weltweit brüten über der Frage, in welchem Maße sich das Home-Office nach der Pandemie fortsetzen wird und was das dann für die Arbeitsplätze der Zukunft bedeutet. Das Thema, sagt Wagner, "ist heißer denn je".

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