Chancengleichheit:"Wir leben in der Steinzeit"

Lesezeit: 3 Min.

Zahra Mohammadi, 19, ist im Iran aufgewachsen und möchte gern gesellschaftlich etwas bewegen. Dabei hilft ihr die "Start"-Stiftung. (Foto: privat/oh)

Es gibt mehr Martins im bayerischen Landtag als Abgeordnete mit Migrationshintergrund. Beim Weg in die Politik haben Menschen mit Zuwanderungsgeschichte Nachteile. Eine Stiftung möchte das ändern. Und Zahra Mohammadi auch.

Von Viktoria Spinrad, München

Geht es um Afghanistan, dann kann sich Zahra Mohammadi richtig in Rage reden. Die 19-Jährige aus Bad Neustadt an der Saale kommt innerhalb weniger Sätze von der wechselvollen Geschichte des Landes zum Status Quo. "Das Land ist wieder unter null", sagt sie. Früher, als sie selber noch im Nahen Osten lebte, habe sie immer gesagt: Irgendwann werde ich Präsidentin von Afghanistan. Auch heute hat sie den Drang, etwas zu bewegen. "Mitentschieden, mitmachen", sagt sie und blickt entschlossen in die Kamera ihres Laptops. Nur ist das einfacher gesagt als getan.

Jeder fünfte Mensch in Bayern hat einen Migrationshintergrund, 2024 wird es laut Prognosen jeder Vierte sein. Und doch ziehen sich die Nachteile wie ein roter Faden durch das Leben der Menschen. Entspräche Zahra Mohammadi dem Schnitt, dann würde sie in einer kleineren Wohnung leben, wahrscheinlicher als andere die Mittelschule besuchen und tendenziell eher die Klasse wiederholen. Sie würde die Schule eher ohne Abschluss verlassen, weniger verdienen, seltener wählen gehen und sich weniger politisch und gemeinnützig einbringen.

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Die Diversität der bayerischen Bevölkerung spiegelt sich im Parlament nicht wider. Wer durch die Liste der Abgeordneten im bayerischen Landtag scrollt, findet nur eine Handvoll ausländisch klingender Namen. Sechs der 205 Abgeordneten haben einen Migrationshintergrund - also jeder 34. oder knapp drei Prozent. Dagegen tragen gleich neun Abgeordnete den klassisch deutschen Vornamen Martin und sechs Parlamentarier heißen Markus.

Die Eltern von Arif Taşdelen waren Analphabeten

"Was Chancengleichheit angeht, leben wir noch in der Steinzeit", sagt der Nürnberger Arif Taşdelen (SPD), einer der wenigen Abgeordneten mit Migrationshintergrund. Als er acht Jahre alt war, kam seine Mutter mit ihm aus Anatolien nach Bayern. Seine Eltern waren Analphabeten. Er wurde der erste Migrant aus Mittelfranken, der für den Landtag kandidierte. "Die Angst in der Partei, dass der Deutsche jemand mit ausländischem Namen nicht wählt, war groß", sagt er. Er holte sich seine Kandidatur dann im Duell gegen einen anderen Bewerber.

Damit mehr Menschen wie er sich politisch engagieren, vergibt die in Frankfurt ansässige "Start"-Stiftung Stipendien an Schüler mit Migrationshintergrund, seit mehreren Jahren auch an solche aus Bayern. Eine der Geförderten ist Zahra Mohammadi. Eine 19-Jährige mit hellblond gefärbten Haaren, silbernen Kreolen und einem Hang zu Denglisch. Sie wuchs als Angehörige einer afghanischen Minderheit in Iran auf, half ihrer Mutter beim Schneidern in der Fabrik und war ansonsten gut beraten, sich anständig zu verhüllen. 2016 floh die Familie in den Westen und landete im unterfränkischen Bad Neustadt an der Saale.

Dort integrierte sie sich mithilfe von freiwilligen Helfern schnell, lernte die Sprache, machte einen der besten Mittelschulabschlüsse und wurde bayerische Vizemeisterin im Kickboxen. Nur mit dem Mitmischen gestaltete es sich in der 15 000-Einwohner-Stadt nicht so einfach. "Mir hat eine Community gefehlt, die mich inspiriert", sagt sie. Deshalb bewarb sie sich bei der Start-Stiftung. Seit vergangenem Herbst besucht sie mit ihren zwölf bayerischen Mitstreitern Seminare zu Themen wie Persönlichkeitsbildung, sozialem Unternehmertum und Demokratie.

Sie und die anderen jungen Leute aus Ländern wie Ungarn, Albanien und Ägypten sollen sich weiterentwickeln und vernetzen, selbstbewusst werden und sich später politisch und zivilgesellschaftlich einbringen. So möchte die Stiftung die Vielfalt auf den Entscheidungsebenen stärken und damit den gesellschaftlichem Zusammenhalt. Ein Vorzeige-Alumnus ist Kassem Taher Saleh, ein gebürtiger Iraker, der für die Grünen in den Bundestag eingezogen ist. "Wenn ich sehe, dass diese Leute es geschafft haben, werde ich es bestimmt auch schaffen", sagt Mohammadi.

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Kinder mit Migrationshintergrund besuchen meistens die Mittelschule

Der Einzug in den bayerischen Landtag ist bisher nur wenigen Menschen mit Migrationshintergrund gelungen, die meisten davon gehören den Grünen an. Etwa der in Istanbul geborene Sprecher für Strategien gegen Rechtsextremismus, Cemal Bozoglu. Oder Gülseren Demirel, im türkischen Malatya geboren und Mitglied im Rechtsausschuss. Der Abgeordnete für München-Moosach, Benjamin Adjei, ist am Tegernsee geboren, sein Vater kommt aus Ghana. Die Familie von Christoph Skutella (FDP) zog von Polen in die Oberpfalz, zwei Freie Wähler haben sudetendeutschen Hintergrund, was in der Statistik aber nicht entsprechend zählt. Landwirtschaftsministerin Michaela Kaniber (CSU) ist die Tochter kroatischer Gastarbeiter. Und natürlich Arif Taşdelen (SPD) aus Anatolien.

Während ein Bericht aus dem Jahr 2018 ein grundsätzlich positives Bild der bayerischen Integrationsarbeit zeichnet, sieht Taşdelen noch viele Defizite, und die vor allem bei der Bildung. Am Telefon schimpft er über höchst ungleiche Übertrittsquoten in seinem Nürnberger Wahlbezirk, über zu wenige Erhebungen und die Verhältnisse an den Mittelschulen. Tatsächlich sind diese längst Sammelbecken für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Fast 60 Prozent der Achtklässler mit Zuwanderungsgeschichte besuchen eine Mittelschule, von denen ohne nur 20 Prozent. Während es jeder dritte ohne Zuwanderungsgeschichte auf das Gymnasium schafft, ist es beim Rest nicht mal jeder Fünfte. "Wir bräuchten viel mehr multiprofessionelle Teams", sagt Taşdelen.

Auch Zahra Mohammadi blickt kritisch auf das Schulsystem. "Schule ist ein Ort, wo Noten gemacht werden", sagt sie. Die Themen kämen ihr oft lebensfremd vor. Das Stipendium habe ihr aber geholfen, zu sehen, dass es da draußen noch andere Dinge gebe. Themen, für die es sich einzusetzen lohnt. Zurzeit ist sie mitten im Fachabitur. Nächstes Jahr möchte sie mit dem regulären Abi abschließen, dann in einer Großstadt studieren und sich dort vernetzen. Es sei doch wichtig, sagt sie, dass nicht nur Deutsche da oben in der Politik säßen und die Dinge planten: "Das Land ist doch bunt."

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