Als vor der Landtagswahl 2018 die Spitzenkandidaten zu Podien geladen wurden, hockte da für die AfD meist ein Mann im TV-Studio, der überhaupt nicht für das Parlament in Bayern antrat: der damalige Landeschef Martin Sichert, Bundestagsabgeordneter. Auf eine Person, die für die gesamte Partei im Freistaat steht, konnte und wollte sich die AfD damals nicht einigen. Und hätte man einen der Listenführer in den Bezirken ins Fernsehen geschickt - etwa Franz Bergmüller aus Oberbayern oder Katrin Ebner-Steiner aus Niederbayern - wären nicht nur prompt regionale Befindlichkeiten aufgeflammt. Sondern auch der traditionelle Richtungskampf in der AfD, gehörte ja der eine zum moderateren Lager, die andere zum völkischen "Flügel". Und jetzt im Wahljahr 2023? Wird es aller Voraussicht nach wieder keine offizielle Nummer eins geben.
Dabei würde sich der jetzige Vorsitzende der Bayern-AfD Stephan Protschka, ebenfalls aus dem Bundestag, einen Spitzenkandidaten wünschen, als "Gesicht für die Öffentlichkeit". Das zumindest betonte er demonstrativ beim letzten Parteitag in Greding, wo es um erste Wahlkampfdinge ging. Vielleicht sagte er das, weil er nicht den Notnagel spielen will wie 2018 Sichert, vielleicht in Sorge um die Außenwirkung. Aber sicher aus dem strotzendem Selbstbewusstsein heraus, mit dem Protschka seit einiger Zeit auftritt. In einem internen Mitgliederschreiben zum neuen Jahr phantasierte er davon, die AfD müsse "mittelfristig" regieren. Und das als Senior-, nicht als Juniorpartner. Sein "Wunschgedanke" sei daher, sogar "einen Ministerpräsidentenkandidaten aufzustellen". Der Brief datiert übrigens noch vor dem BR24-Bayerntrend, in dem die AfD den stärksten Umfragewert jemals erreichte, 13 Prozent.
Ein denkbarer Spitzenkandidat böte sich an: der Fraktionschef im Landtag, Ulrich Singer. Der Jurist, 47, war im Herbst 2021 ans Ruder gekommen, zunächst im Duo mit Christian Klingen. Seit dessen Austritt führt er die Landtagstruppe allein. Sein moderateres Lager steht zwar nach allerlei Verschiebungen inzwischen ohne Mehrheit da, Singer aber hält sich wacker. Derzeit herrscht zudem ein "Burgfrieden" für den Wahlkampf, wie in Fraktionskreisen beteuert wird. Öffentlich fällt Singer nicht unbedingt als Geiferer auf. Nicht jeder intern ist glücklich damit, mancher wünscht eher einen Chef, "der hinlangt, dass kein Gras mehr wächst". In einer BR-Sendung neulich zum Bayerntrend hätte jedenfalls ein völlig Unkundiger in der Landespolitik - ohne Kenntnis der Parteiprogramme - wohl weniger Singer als Vertreter der rechtesten Partei in der Runde identifiziert. Sondern Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger, weil der sehr viel schärfer in Asyldebatten einstieg.
Ein Mitgliederparteitag im April soll entscheiden über die Kandidatenfrage; also zuerst darüber, ob es diesmal einen gibt. Frage bei der Pressekonferenz zur AfD-Klausur vergangene Woche: Herr Singer, wie schaut's aus? Ein Spitzenkandidat sei "nicht notwendig", sagte der Gefragte, er sei "kein Freund davon". Und man habe ja viele "Gesichter" in den Stimmkreisen.
Dass Singer ein Vorpreschen scheut, verwundert indes keineswegs. Es gibt drei Hürden: Erstens rühmt sich die AfD gerne als basisdemokratisch, viele Mitglieder halten nichts von schillernden Exponenten. Es gilt: Wer heute noch vermeintlich führt, kann morgen schon gemeuchelt werden. Zweitens müsste ein Kandidat wohl aus dem Kreis der Listenführer der sieben Bezirke kommen. Deren Aufstellungstermine stehen noch an, Singers schwäbischen Verband führen inzwischen die Völkischen an - vielleicht landet der Fraktionschef gar nicht vorn auf der Liste. Und drittens wäre da noch der stets unberechenbare Parteitag, wo alle Dämme im Lagerkampf brechen könnten, Burgfriede hin oder her. Und falls jemand mit 52 Prozent gewählt werde, hört man in der AfD, stehe derjenige medial "sofort als einer ohne Rückhalt" da. Jedoch gebe es anders als 2018 einen Vorteil: Ein Fraktionschef sei auch ohne eine solche Kür legitimiert, zum Beispiel im Fernsehen für die ganze AfD aufzutreten.