Am Reißbrett lässt sich gut träumen: Stadtplaner sinnen schon lange auf Abhilfe gegen den Verkehrsinfarkt. Als Alternative zu verstopften, autogerechten Kommunen entwerfen sie voll vernetzte Online-Communitys.
Bevölkert werden diese "Smart Cities" von einem neuen Menschentypus. Großstadtindianer sollen mit Smartphones in der Hand ständig wechselnden Fährten folgen. Die Kinder der Jahrtausendwende ("Millennials") werden spontan Autos mieten und wieder stehenlassen, wenn sie ihr Ziel auf anderen Wegen schneller erreichen.
Bis 2030 soll ein digitaler Tsunami die Ampeln, Verkehrszeichen und Parkplätze fortspülen: "Parkende Autos sind totes Kapital. Ich stelle mir Elektroautos vor, die wie Taxis ständig in Bewegung sind", so Jürgen Mayer H. Mit seiner Vision vom "individualisierten Massentransportmittel" gewann er den Audi Urban Future Award 2010.
Die Diskussion über Datennutzung und -eigentum zog sich wie ein roter Faden bereits durch das Weltverkehrsforum 2010. Der nichtöffentliche Kongress ist die wichtigste Plattform für Verkehrsexperten und Politiker der 34 OECD-Staaten (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung).
Von Mittwoch an bietet Leipzig wieder Gelegenheit, die richtigen Fragen und Weichen für die Zukunft zu stellen. Unter dem Leitthema "Verkehr und Gesellschaft" werden rund 1000 Fachleute auf dem Weltverkehrsforum 2011 über sozial verträgliche Mobilität beraten.
Gerade im Hinblick auf vernetzte Städte müssen Politiker auch bedenken, wer die Spinne im Netz sein könnte: Wer erfasst künftig alle Bewegungsprofile und wer darf damit Geschäfte machen? Werden riesige Datenkraken wie Google die total vernetzte mobile Gesellschaft am Ende kontrollieren?
"In der Vergangenheit haben sich Städte dem Auto angepasst. Wir glauben, dass es in Zukunft andersherum sein wird: Das Auto wird sich an die Stadt anpassen", sagt Audi-Vertriebsvorstand Peter Schwarzenbauer, "das Auto ist heute ein bestimmender Faktor im Stadtbild, in seiner Funktion aber im Prinzip völlig isoliert. In der Zukunft wird sich das Auto einbringen und intensiv vernetzen."
Technisch machbar sind solche Car-to-Car- und Car-to-Infrastructure-Lösungen schon heute - aber wird die Masse der Autos geringer, wenn sie besser vernetzt sind? An dieser simplen Frage krankt auch die Diskussion über Elektromobilität: Es hat keinen Sinn, die weiter wachsende Fahrzeugflotte lediglich zu elektrifizieren. Denn dann stehen wir eben lokal emissionsfrei im Stau.
Hat das Auto eine urbane Zukunft? Sicher ist nur, dass sich die Zukunft des Individualverkehrs in den Städten entscheidet - dort, wo schon heute die Hälfte der Menschheit wohnt.
Bis 2025 werden die Städter mit 60 Prozent in der Mehrheit sein. Die Völkerwanderung ist nicht zu stoppen, weil die Menschen dorthin ziehen, wo es Arbeit gibt. 85 Prozent der Wirtschaftsleistung wird in urbanen Zentren erbracht.
Kein Wunder, dass im Straßenverkehr der meisten Megacitys fast nichts mehr vorangeht. Neue Mobilitätsvisionen sind gefragt - auch weil der Autobesitz zumindest in der westlichen Welt an Bedeutung verliert.
"Die Einstellung zum Auto wandelt sich. Viele junge Menschen sind als ,Digital Natives' aufgewachsen. Internet, Facebook und Twitter gehören für sie zum Alltag. Die Kunden von morgen müssen wir anders ansprechen und ihnen zusätzliche Angebote machen", bekannte jüngst BMW-Chef Norbert Reithofer.
Allein kann die Autoindustrie aber wenig bewegen. Das iPhone auf Rädern wird erst dann intelligent, wenn es seine Grenzen anhand der aktuellen Verkehrslage selbst erkennt - und zum spontanen Wechsel zu Fahrrad, Bus oder Bahn einlädt. Ohne Echtzeitdaten bleibt die ganze Intermodalität jedoch so fade wie das Internet in seiner Gründerzeit: www - warten, warten, warten.
Wie einfach Innovationen sein können, zeigte das Beispiel des Koreaners Juwan Yoo. Der 17-jährige Schüler hatte die Echtzeitdaten der örtlichen Busbetreiber von Seoul zusammengeführt, die im Internet ohnehin zur Verfügung stehen.
Seine kostenlose Smartphone-Anwendung fand in kürzester Zeit mehr als eine halbe Million Nutzer. Trotzdem reagierten die Busbetreiber ablehnend und verlangten die Entfernung des Programms aus dem App-Store. Erst nach massenhaften Protesten der Nutzer ging "Seoul Bus" wieder online.
Manchmal sind es aber auch überholte Gesetze, die den Fortschritt behindern. Das autonome Auto, das Visionären wie Jürgen Mayer H. vorschwebt, scheitert zum Beispiel an Vorschriften aus dem Zeitalter der Pferdefuhrwerke.
Die Wiener Konvention von 1968 schreibt international verbindlich vor, dass "jeder Fahrzeugführer zu jeder Zeit in der Lage sein muss, sein Fahrzeug oder Tier zu kontrollieren".
Mit solchen Rechtsgrundsätzen kollidiert auch eine automatische Vollbremsung, die einen Unfall im Vorfeld vermeiden könnte. Abhilfe sieht Jack Short in einer Analogie zur voll computerisierten Luftfahrt: "Dort ist allgemein akzeptiert, dass der Fahrzeugführer nicht die 'Kontrolle', sondern das 'Kommando' haben muss", so der Generalsekretär des Weltverkehrsforums.
Von wegen Futurismus: Der Verkehr der Zukunft könnte von außen ähnlich aussehen wie heute, aber er wird möglicherweise anderen gesellschaftlichen Konventionen und Organisationsformen folgen.
"Wiederholt wurde auf dem Kongress angesprochen, dass Innovation im Verkehrsbereich weniger durch technische Faktoren gebremst wird, als durch organisatorische und institutionelle Blockaden", betonte Jack Short im vergangen Jahr.
"Der Mobilitätssektor von heute bietet wenig Spielraum für Start-ups - obwohl von diesen einige der innovativsten Ideen kommen", sagte Robin Chase auf dem Weltverkehrsforum 2010, "wir glauben zu sehr daran, dass nur Regierungen oder große Konzerne unsere Verkehrsprobleme lösen können."
Die Vordenkerin der Carsharing-Idee denkt eher an soziale Communitys, wenn sie über Netzwerke spricht: "Jedes gemeinsam genutzte Auto kann mehr als zehn Privatfahrzeuge ersetzen."
Auch Jaime Lerner betont die soziale Seite moderner Verkehrssysteme: "Jede Stadt hat eine eigene Archäologie der Verkehrswege und des Zusammenlebens", sagt der Vorsitzende des Internationalen Architektenverbandes, "und jede Stadt in der Welt kann ihre Lebensqualität in weniger als drei Jahren dramatisch verbessern."
Als ehemaliger Gouverneur von Paraná - einem brasilianischen Bundesstaat von der Größe der Schweiz - weiß der 73-Jährige, wovon er spricht. In den siebziger Jahren verhinderte er als Bürgermeister von Curitiba, dass Autobahnen quer durch das Stadtzentrum gebaut wurden.
Weil es im Süden Brasiliens kein Geld für eine U-Bahn gab, führte er separate Busspuren auf den Hauptverkehrsstraßen ein. Heute nutzen 85 Prozent der Einwohner die Doppelgelenkbusse, die bis zu 300 Personen in einer Fuhre transportieren können. Die schnelle Bus-Metro-Fuhre verbindet alle Teile der Stadt zum günstigen Einheitstarif.
"Kreative Ideen bekommt man, wenn man eine Null aus dem Etat streicht. Wer Nachhaltigkeit will, muss noch eine Dezimalstelle aus der veranschlagten Summe löschen", provoziert Jaime Lerner.
Als Hauptredner des dritten Kongresstags wird er auch über sein Carsharing-Projekt Dock Dock sprechen: Dabei kommen Wägelchen zum Einsatz, die nur ein Sechstel so groß sind wie ein konventionelles Auto. Die billigen Einsitzer sind höchstens 25 km/h schnell und passen auf jeden Fahrradweg. Verteilt über die ganze Stadt sollen sie den Wunsch nach einem eigenen Auto gar nicht erst aufkommen lassen."